Marcel Helbig arbeitet als Sozialwissenschaftler am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg.

Gymnasien sollen die leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler aufnehmen. Hat ein Kind einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Lernen oder gar geistige Entwicklung – das betrifft rund 50 Prozent aller Kinder mit einem Handicap –, ist ein Gymnasium für es ungeeignet. Gleiches gilt für Schülerinnen und Schüler mit unzureichenden Deutschkenntnissen. Dieses Leistungsprinzip des gegliederten deutschen Schulsystems führt in der Praxis dazu, dass die Inklusion behinderter Kinder und die Integration neu zugewanderter Kinder an Gymnasien so gut wie kein Thema ist.

Stattdessen werden Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf weit überwiegend an nicht gymnasialen Schulen unterrichtet, und auch neu zugewanderte Kinder sind dort weit überproportional vertreten. Das heißt, die aktuell drängendsten Herausforderungen des deutschen Schulsystems, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention (Inklusion) und der starken Zuwanderung aus dem Ausland seit 2014 (Integration) ergeben, werden nicht von den Gymnasien getragen.

Dies wäre aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht sicherlich noch hinnehmbar, wenn die Schulen, die deshalb die größten Herausforderungen zu bewältigen haben, auch über die meisten Ressourcen verfügten. Die dritte und vielleicht größte aktuelle Herausforderung des deutschen Schulsystems trifft jedoch ebenfalls die nicht gymnasialen Schulformen weitaus härter: der Lehrkräftemangel. Unter diesem leiden die Gymnasien bei Weitem nicht so stark. Dies belegen verschiedene parlamentarische Anfragen aus den Bundesländern.

Die Zahlen sprechen für sich: In Berlin etwa ist der Anteil der Quereinsteiger unter den neu eingestellten Lehrkräften an Grundschulen fast viermal so hoch wie an Gymnasien. In Brandenburg liegt der Anteil der grundständig ausgebildeten Lehrkräfte an Oberschulen um 20 Prozentpunkte niedriger als an Gymnasien. An den niedersächsischen Oberschulen konnten 34 Prozent aller ausgeschriebenen Stellen bis zum Schuljahresbeginn nicht besetzt werden, an den Gymnasien nur 10 Prozent. In Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen-Anhalt liegt die durchschnittliche Unterrichtsversorgung – berechnet aus dem Soll und dem Ist an Lehrkräften einer Schule – an den Gymnasien eher über 100 Prozent, an den nicht gymnasialen Schularten unter 100 Prozent. Besonders dramatisch ist die Situation an Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt und an Regelschulen in Thüringen. Hier wird die gesetzlich vorgeschriebene Lehrkräfteversorgung an 12 beziehungsweise 16 Prozent dieser Schulen um mindestens ein Fünftel unterschritten.

Die ungleiche Personalausstattung hat noch nicht alle Bundesländer erreicht. Aber die aktuelle Lehrkräfteprognose aus Bayern lässt erahnen, wie dramatisch sich die Situation auch in Regionen zuspitzen wird, die bislang nicht unter dem Lehrkräftemangel zu leiden haben. Für die kommenden zehn Jahre wird erwartet, dass an den bayerischen Gymnasien der Lehrkräftebedarf durch die Lehramtsabsolventen der Universitäten in etwa gedeckt werden kann. An den Realschulen hingegen wird für diesen Zeitraum ein Fehlbedarf von teilweise 35 Prozent pro Schuljahr prognostiziert, an den Mittelschulen (den ehemaligen Hauptschulen) sogar von bis zu 65 Prozent der benötigten Lehrkräfte.

Dass Schulen mit den größten Herausforderungen bei gleichzeitig schlechtester Ausstattung ihren Bildungsauftrag nicht adäquat erfüllen können, sollte jedem klar sein. Das gegliederte Schulsystem wird am unteren Ende zunehmend dysfunktional. Warum führt diese Ungerechtigkeit nicht zu einem größeren Aufschrei? Die Antwort: Sozial unterprivilegierte Gruppen, deren Kinder meist an nicht gymnasialen Schulen lernen, erheben selten ihre Stimme. Zugleich mobilisieren in vielen westdeutschen Bundesländern Elterninitiativen Politik und Öffentlichkeit: Sie kämpfen für die Rückkehr zum G9-Gymnasium, was sicherlich weitere Ressourcen erfordert.