Inklusion

„In welchem Land wollen wir leben?“

Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Artikel 24 der Konvention schreibt ein inklusives Bildungssystem vor. Warum hat die Politik bis 2023 so wenig dafür getan? Experte Jürgen Dusel über Versäumnisse und Lösungen. Ein Interview von Roman Eisner.

04.01.2024 Bundesweit Artikel didacta Infodienst
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didacta Infodienst: In Deutschland werden 55 Prozent der Kinder mit Förderbedarf an Sonderschulen unterrichtet. Die UN kritisierte Deutschland im August für die mangelhafte Inklusion im Schulsystem. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Jürgen Dusel: Ich saß mit am Tisch bei der UN-Staatenprüfung in Genf und teile die Auffassung. Wir haben Defizite. Wer die UN-Behindertenrechtskonvention nicht umsetzt, verstößt gegen geltendes Recht. Da müssen die Bildungspolitiker/-innen in den Bundesländern ihre Hausaufgaben machen. Bei der Umsetzung von Inklusion geht es nicht um irgendeine Nettigkeit. Es geht um geltendes Bundesrecht. Menschen mit Behinderungen wollen ihre Rechte nicht nur auf dem Papier vorfinden, sie wollen diese auch leben können.

JÜRGEN DUSEL ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Zuvor leitete der Jurist unter anderem das Integrationsamt des Landes Brandenburg. Dusel ist von Geburt an stark sehbehindert. Seine Amtszeit stellt er unter das Motto „Demokratie braucht Inklusion“.

Warum ist seit 2009 so wenig passiert?

Weil die einzelnen Bundesländer unterschiedliche politische Überzeugungen haben, was unter gemeinsamem Unterricht zu verstehen ist. In Genf war auch jemand von der Kultusministerkonferenz dabei. Man konnte dem UN-Ausschuss gar nicht vermitteln, warum die Lage in Deutschland so unterschiedlich ist – warum also in Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und in Berlin die Zahlen zur Inklusion besser sind als in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und im Saarland.

Was machen Bundesländer wie Bremen oder Berlin anders als der Rest?

Es gibt einen Vorbehalt in den Schulgesetzen, der besagt, dass man seine Schule grundsätzlich frei wählen kann – aber nur, wenn die Schule über die nötigen fachlichen und personellen Ressourcen verfügt. Die genannten Bundesländer haben diesen Vorbehalt gestrichen. Dadurch setzen sie den Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention besser um, weil Eltern die Schule für ihre Kinder damit tatsächlich frei wählen können. Andere Bundesländer sortieren Kinder sehr früh aus und ordnen sie in verschiedenen Schularten ein. Wir lernen aber nicht nur für die Schule, sondern für das Leben. Inklusive Schulen bieten die Chance, zukünftigen volljährigen Bürgerinnen und Bürgern Demokratie und Diversität beizubringen. Es ist keine richtige Demokratie, wenn sie nicht die gleichberechtigte Teilhabe der Menschen in ihrer Vielfalt gewährleistet. Für ein inklusives Schulsystem genügt es aber nicht, nur alle Kinder gemeinsam zur Schule zu schicken. Das sorgt eher für Konfusion als für Inklusion. Die Kultusministerkonferenz (KMK) muss die richtigen Voraussetzungen schaffen.

Welche Voraussetzungen sind das?

Es muss sichergestellt sein, dass Kinder mit einem behinderungsbedingten Mehrbedarf diesen an der Regelschule auch kriegen. Wenn das Kind die Unterstützung an der Regelschule nicht erhält, dann fahren wir die Inklusion an die Wand und geben all denen Recht, die schon immer geglaubt haben, dass es nicht funktioniert. Zudem brauchen Schulen eine Willkommenskultur und das Wissen, dass die Gruppe der Kinder mit Behinderungen sehr heterogen ist. Es gibt Kinder, die können nicht gut sehen, andere können nicht gut laufen oder nicht gut lernen oder hören. Die alle über einen Kamm zu scheren, wird dem Thema nicht gerecht. Inklusion ist nicht nur eine Frage der Gesetze. Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit willkommen zu heißen, ist auch eine Sache der Herzensbildung.

Was kann die Politik konkret tun?

Die Förderschulen müssen abgebaut werden und die Förderschullehrkräfte sowie Sonderpädagogen an die Regelschulen kommen. Die Politik muss dafür die finanziellen und baulichen Voraussetzungen schaffen. Hier sind auch die Kommunen als Schulträger gefordert. Schulen, die neu gebaut werden, müssen barrierefrei sein. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Kind im Rollstuhl jeden Tag 60 Kilometer mit einem Fahrdienst gefahren wird, weil die neue Schule nicht barrierefrei ist. Das ärgert mich. Hinzu kommt: Wenn die nächste barrierefreie Schule weit weg ist, leben die Kinder häufig in einem Internat. Was muten wir den Kindern und deren Eltern damit zu? Man kann aber auch Förderschulen, denen aufgrund niedriger Schülerzahlen die Schließung droht, für Kinder ohne Behinderungen öffnen. Dafür gibt es gute Beispiele. Wir müssen hier unsere German Angst, unsere typisch deutsche Angst, verlieren.

Viele Lehrkräfte fühlen sich bei Inklusion überfordert, wie eine Studie der Robert Bosch Stiftung gezeigt hat. Braucht es eine Fortbildungsoffensive zur Inklusion?

Ja, wir brauchen Fortbildungen und Unterstützung für Lehrkräfte, beispielsweise durch Personal aus der Förderpädagogik, das im gemeinsamen Unterricht helfen kann. Es ist Aufgabe der KMK und der einzelnen Bundesländer, die Lehrkräfte nicht alleine zu lassen. Ich kann verstehen, wenn Lehrkräfte in Deutschland am Limit sind. Regelschullehrkräfte werden in ihrer universitären Ausbildung unzureichend vorbereitet auf das Thema Förderpädagogik. Inklusion muss im Lehramtsstudium Thema werden. Lehrkräfte sollten wissen: Drei Viertel der Schüler/-innen an Förderschulen verlassen die Förderschule ohne Schulabschluss. Wie sollen sie einen Job finden? Bei der Inklusion an Schulen geht es nicht um irgendein reformpädagogisches Konzept, sondern um die Frage, in welchem Land wir leben wollen.

Wird die Politik nun handeln oder droht die Inklusion im Bildungssystem zum Opfer aktueller Krisen zu werden?

Die Politik muss die Kritik der Vereinten Nationen mit Respekt zur Kenntnis nehmen – gerade jetzt, wo es in unserem Land auch politische Kräfte gibt, die wieder auf paternalistische und autoritäre Systeme setzen. Der Bund, die Länder, die Kommunen und Schulträger sowie die Schulleitungen stehen in der Pflicht zu überlegen, wie sie helfen können, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Niemand darf sich zurücklehnen. Auch die Eltern von Kindern mit Behinderungen sollten nochmal eine deutliche Ansage machen, dass sie auf die Rechte ihrer Kinder in Deutschland bestehen.

Sie selbst waren an einer Regelschule. Welche Schlüsse ziehen Sie aus Ihrer Schulzeit?

Als ich nach der Förderschule auf ein reguläres Gymnasium sollte, haben alle Schulleiter gesagt: „Das können wir unseren Lehrern nicht zumuten“. Eine Gesamtschule hat mich aber aufgenommen und das war für mich ein Segen. Denn es ist ein Unterschied, ob Kinder eine Schule besuchen, wo nur Kinder mit Behinderungen sind, oder eine Schule, die die gesellschaftliche Realität widerspiegelt. Und es war auch für meine Mitschüler/-innen gut. Warum das? Weil sie jemanden kennenlernen konnten, der schlecht im Fußball war, aber trotzdem sein Abitur geschafft und studiert hat. Einige meiner Mitschüler/-innen haben später im Berufsleben Personalverantwortung übernommen und Menschen mit Schwerbehinderung eingestellt, weil sie mit mir bereits jemanden kannten und die Chance hatten, Vorurteile gar nicht erst aufzubauen. Wir suchen verzweifelt Fachkräfte in Deutschland. Viele arbeitslose schwerbehinderte Menschen in Deutschland sind gut qualifiziert, werden aber nicht eingestellt. Das hat auch mit Vorurteilen zu tun. Diese entstehen gar nicht erst, wenn wir Begegnungen schaffen. Und die ersten Orte für Begegnungen sind Kitas und Schulen.

Warum das?

Weil sie jemanden kennenlernen konnten, der schlecht im Fußball war, aber trotzdem sein Abitur geschafft und studiert hat. Einige meiner Mitschüler/-innen haben später im Berufsleben Personalverantwortung übernommen und Menschen mit Schwerbehinderung eingestellt, weil sie mit mir bereits jemanden kannten und die Chance hatten, Vorurteile gar nicht erst aufzubauen. Wir suchen verzweifelt Fachkräfte in Deutschland. Viele arbeitslose schwerbehinderte Menschen in Deutschland sind gut qualifiziert, werden aber nicht eingestellt. Das hat auch mit Vorurteilen zu tun. Diese entstehen gar nicht erst, wenn wir Begegnungen schaffen. Und die ersten Orte für Begegnungen sind Kitas und Schulen.


Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in:

didacta Infodienst – das Bildungsdossier für Politik und Bildungsverwaltung, Ausgabe 4/2023, S. 5-6.


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