Chancengerechtigkeit

Inklusionsbestrebungen an Deutschlands Schulen gescheitert?

Die Bilanz in Bezug auf die schulische Inklusion von Kindern mit Förderbedarf ist in Deutschland durchwachsen. Von Franziska Schuberl

02.01.2024 Bundesweit Artikel didacta Infodienst
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Seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland verbindlich. Sie soll Menschen mit Behinderung Chancengleichheit und Teilhabe in allen Lebensbereichen, insbesondere in der Bildung ermöglichen. Für Deutschland bedeutet das: Um die UN-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen, muss der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an Förderschulen unterrichtet werden, stark sinken.

Bremen als Vorreiter

Seit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an Regelschulen unterrichtet werden, stetig angestiegen. So besuchten nach Angaben des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im Jahr 2021 in Deutschland insgesamt 258 000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule, während es im Jahr 2009 etwa 95 000 gewesen waren. Das entspricht einem Anstieg von rund 1,1 auf rund 3,5 Prozent aller Schü- lerinnen und Schüler. Allerdings variieren die Zahlen von Bundesland zu Bundesland stark. Bremen ist Vorreiter und verzeichnete im Schuljahr 2020/21 mit 7,5 Prozent den höchsten Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern, die mit Förderbedarf an einer Regelschule unterrichtet wurden. Berlin und Hamburg folgen mit 6,2 beziehungsweise 5,3 Prozent. Die geringste Verbreitung von Lernenden, die inklusiv gefördert werden, findet sich in Rheinland-Pfalz mit 2 Prozent, in Hessen mit 2,1 Prozent und in Bayern mit 2,2 Prozent.

Inklusionsquote nicht aussagekräftig

Diese Inklusionsquote, manchmal auch Integrationsquote genannt, also der Anteil aller Schülerinnen und Schüler, die einen Förderbedarf haben und an Regelschulen unterrichtet werden, ist allerdings kein alleiniger Indikator für den Stand der Inklusion. Denn ein Anstieg der Inklusionsquote bedeutet nicht zwangsläufig, dass gleichzeitig auch der Anteil der Schülerschaft an Förderschulen abnimmt – und genau dies ist das eigentliche Ziel der Inklusion gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention. Das liegt daran, dass der Anstieg der Inklusionsquoten zum Teil aus einer verstärkten Diagnose von Förderbedarfen resultiert, und nicht aus einer Reduzierung des Anteils von Kindern und Jugendlichen, die an Förderschulen lernen. So ist der Anteil an allen Schülerinnen und Schülern, bei denen ein Förderbedarf diagnostiziert wurde, seit 2009 von 6 auf 7,9 Prozent gestiegen. Um den Fortschritt der Inklusion zu beurteilen, sind daher die Förderschulbesuchsquoten aussagekräftiger.

Diese Betrachtung zeigt, dass in einigen Bundesländern der Anteil der Schüler/-innen an Förderschulen trotz steigender Integrationszahlen stagniert oder sogar angestiegen ist. Seit 2009 ist die Anzahl der Schüler/-innen, die an einer Förderschule lernen, bundesweit kaum gesunken, sie betrug 2020/21 immer noch 4,4 Prozent.

Ein positives Beispiel für gelungene Inklusion stellt auch hier Bremen dar. Der Anteil der Schü- ler/-innen, die in Förderschulen unterrichtet wurden, ist dort nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung von 4,6 Prozent im Schuljahr 2008/09 auf lediglich 0,9 Prozent im Schuljahr 2020/21 gesunken. Auch in anderen Bundesländern, insbesondere den Stadtstaaten Hamburg und Berlin sowie in Schleswig-Holstein, hat die Besuchsquote von Förderschulen mittlerweile ein vergleichsweise niedriges Niveau erreicht. Entgegen den Zielen der Behindertenrechtskonvention hat sich in einigen Bundesländern der Anteil der Schüler/-innen, die an Förderschulen unterrichtet werden, zwischen den Schuljahren 2008/09 und 2020/21 jedoch sogar erhöht, so etwa in Baden-Württemberg von 4,7 auf 5,3 Prozent, in Bayern von 4,6 auf 4,9 Prozent und in Rheinland-Pfalz von 3,8 auf 4,4 Prozent.

Vorurteile bekämpfen

Eine der größten größten Herausforderungen der Inklusion sei die damit einhergehende notwendige Veränderung des Blickwinkels, mit dem auf Schule und Unterrichten geschaut wird, bemerkt Dr. Cornelia Gresch, Co-Leiterin des Projekts „schulische Inklusion und Übergänge nach der Sekundarstufe I in Deutschland“ an der Humboldt-Universität zu Berlin, kurz INSIDE. „Es reicht nicht aus, Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarfen an allgemeinen Schulen zu ‚platzieren‘, sondern Inklusion ist eine grundlegende Schulentwicklungsmaßnahme, die idealerweise neben allen Kindern auch Lehrkräfte, Schulleitungen, Erzieher/-innen, Schulbegleitungen und andere Beteiligte einbezieht.“ Dabei stehe nicht nur die Förderung einzelner Kinder oder die Gestaltung eines gemeinsamen Unterrichts im Vordergrund, sondern beispielsweise auch die Zusammenarbeit der Lehrkräfte, schulübergreifende Konzepte oder die Vernetzung mit externen Institutionen. Eine weitere Herausforderung bestehe in der Schaffung eines inklusiven Umfelds, das die soziale Integration und die emotionale Entwicklung der Schüler/-innen unterstützt. Hier sei laut Gresch die Sensibilisierung aller Mitwirkenden von großer Bedeutung, um eine entsprechende Offenheit zu schaffen.

Langzeitstudie erforscht Auswirkungen von Inklusion

Aber wie wirkt sich inklusiver Unterricht auf die Beteiligten aus? Die INSIDE-Studie, die im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durchgeführt wird, vom Frühjahr 2023 liefert Erkenntnisse zur Umsetzung schulischer Inklusion. Die Ergebnisse basieren sind dabei sowohl für Kinder an Regelschulen relevant, die sonderpädagogischen Förderbedarf haben, als auch für solche, die keinen Förderbedarf aufweisen. An den Erhebungen dieser Längsschnittstudie nehmen circa 250 Schulen mit ungefähr 4500 Lernenden mit und ohne Förderbedarf aus inklusiven und nicht-inklusiven Klassen sowie deren Lehrkräfte, Eltern, Schulbegleitungen und Schulleitungen teil.

Verschiedene Auswertungen der INSIDE-Studie zeigen, dass inklusiver Unterricht sowohl für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf als auch für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler positive Auswirkungen hat. Beispielsweise gibt es keine negativen Folgen für die Schüler/-innen ohne sonderpädagogische Förderbedarfe, wenn sie eine Klasse besuchen, in der Kinder sonderpädagogisch gefördert werden. Im Gegenteil: Die befragten Schüler/-innen ohne sonderpädagogische Förderbedarfe in inklusiven Klassen bewerteten die Beziehung zu ihren Lehrkräften sogar etwas positiver als diejenigen in nicht-inklusiven Klassen: Mehr Schüler/-innen in inklusiven Klassen gaben an, mit ihren Lehrkräften gut auszukommen, von ihnen fair behandelt zu werden, oder Unterstützung von ihnen zu bekommen. Eine weitere Erkenntnis aus der INSIDE-Studie ist, dass alle Schülerinnen und Schüler höhere überfachliche Kompetenzen aufweisen, wenn sie in einer Lernumgebung unterrichtet werden, die gezielt auf inklusive Bildung ausgerichtet ist.

Darüber hinaus könnten alle Schü- ler/-innen von der Vielfalt in ihren Klassen profitieren, betont Gresch: „Inklusion – sofern sie ganzheitlich umgesetzt wird – kann nicht nur die Bildungschancen von Kindern mit Förderbedarfen verbessern, sondern auch einen Beitrag zur sozialen Integration und zur Schaffung einer inklusiveren und toleranten Gesellschaft leisten.“


Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in:

didacta Infodienst – das Bildungsdossier für Politik und Bildungsverwaltung, Ausgabe 4/2023, S. 3-4.


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