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Experte zu inklusivem Unterricht: „Präventive Arbeit lohnt sich“

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Inklusive Beschulung bedeutet, dass Kinder mit und ohne Behinderung zusammen lernen. Unser Archivfoto zeigt eine Situation in einer Grundschule in Neuss.
Inklusive Beschulung bedeutet, dass Kinder mit und ohne Behinderung zusammen lernen. Unser Archivfoto zeigt eine Situation in einer Grundschule in Neuss. © Henning Kaiser/dpa

Karl Ludwig Rabe vom Landesverband Sonderpädagogik spricht über die Notwendigkeit inklusiven Schulunterrichts.

Kassel – Inklusive Bildung in Deutschland hat zu einer deutlichen Veränderung der Schullandschaft geführt. Allein in der Zeit von 2009 bis 2021 ist die Zahl der Kinder an Förderschulen um 55 000 gesunken, die Zahl der Kinder mit einem Förderbedarf in allgemeinen Schulen dagegen um mehr als 162 000 gestiegen. Gleichzeitig ist die Zahl der Kinder mit geistiger Behinderung um 33 Prozent von 77 900 auf über 103 000 gestiegen.

Vor dem Hintergrund inklusiver Beschulung, also dem gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung, hat auch in Kassel die Zahl der Schüler, die Förderschulen besuchen, abgenommen. Im Schuljahr 2008/2009 waren es noch 1466, heute sind es entsprechend dem aktuellen Schulentwicklungsplan 723. Im vergangenen Jahr gab es eine Zunahme um 20 Kinder.

Experte fordert mehr Lehrkräfte für inklusiven Unterricht

„Inklusion hilft allen Schülerinnen und Schülern. Von Vielfalt geht Förderpotenzial für alle aus“, sagt Karl Ludwig Rabe, Landesvorsitzender des Verbands Sonderpädagogik (Vds) und ehemaliger Leiter der Kasseler Alexander-Schmorell-Schule: „Aber das kommt nicht von selbst.“ Damit inklusive Bildung zum Vorteil von allen funktioniert, dürften das Land und die Kommunen nicht allein gelassen werden. „Wir brauchen im System mehr Lehrkräfte und noch mehr Fort- und Weiterbildung – auch für Präventionsarbeit.“

Die Vds-Hauptversammlung hat den Antrag gestellt, dass der Bund ein Programm auflegt, um Länder und Kommunen besser für inklusive Bildung auszustatten. Er bezieht sich auf die Ausstattung für geistig behinderte Menschen und zielt so vor allem auf die Schulträger. Trotz Rechtsgrundlagen und Selbstverpflichtungen sei Inklusion noch keine Selbstverständlichkeit, so Rabe: „Wir sind in einer Phase, wo die Hemmnisse noch zu groß sind, um einen Durchbruch von gelingender Inklusion zu verkünden.“ Die Exklusionsquote, also der Anteil der Kinder, die im Verhältnis zur Gesamtschülerzahl in Förderschulen unterrichtet werden, stagniere seit Jahren. Mehr als die Hälfte der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gehe aktuell auf Förderschulen.

Es gibt auch Lehrkräfte, die das inklusive Unterrichtsmodell kritisieren.

Karl-Ludwig Rabe, Vorsitzender des Landesverbands Sonderpädagogik
Karl-Ludwig Rabe, Vorsitzender des Landesverbands Sonderpädagogik © Hein, Christina

UN-Recht auf inklusive Bildung

Menschen mit Behinderung haben das Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu einem inklusiven Schulsystem. Das garantiert die von Deutschland am 21. Dezember 2008 unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention. Danach dürfen Menschen aufgrund von Behinderung nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Es bedeutet: Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen haben das Recht, zusammen aufzuwachsen und zu lernen.

Inklusive Bildung: Gesamtstrategie für Deutschland gefordert

Der internationale Vergleich zeige – so das Deutsche Institut für Menschenrechte – dass ein inklusives Schulsystem gut für alle Kinder – mit und ohne Behinderungen – ist. Doch es bestünden noch Bedarfe. Das Institut forderte für Deutschland eine Gesamtstrategie für inklusive Bildung mit einer stärkeren Kooperation von Bund und Ländern.

Darüber und wie inklusive Bildung umgesetzt wird, sprachen wir mit dem langjährigen Leiter der Alexander-Schmorell-Förderschule mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, und Vorsitzenden des Landesverbands Sonderpädagogik, Karl Ludwig Rabe.

Herr Rabe, fangen wir mit einer großen Frage an: Ist inklusive Bildung, die seit 2009 auch in Kassel vorangetrieben wird, gelungen?

Ich bin davon überzeugt, dass sie gelingen kann. Das belegen viele Projekte. Aber die Frage, ob es bislang gelungen ist, muss man mehrperspektivisch betrachten. Wir sind in einer Phase, wo die Hemmnisse, Widerstände und Stolpersteine noch zu groß sind, um einen Durchbruch von gelingender Inklusion zu verkünden. Aber ich bin optimistisch.

Wie hat es begonnen?

Wir sind mit viel Elan gestartet. Das nehmen wir insgesamt gar nicht mehr so wahr. Die allgemeinbildenden Schulen haben erst mal mit den Ohren geschlackert und in Richtung Förderschulen gefragt: Was geht uns das an? Ihr habt doch die Methoden. Diese Haltung gilt in vielen Fällen immer noch. Der Impuls, Inklusion vorwärtszutreiben, ist schwächer geworden. Gegenkräfte, die Inklusion in Regelschulen infrage stellen, werden deutlich wahrnehmbar. Die waren vorher nicht im heutigen Umfang hörbar und in der politischen Diskussion als Streitthema vorhanden.

Warum ist das so?

Die krisenhafte Zeit in Deutschland seit 2015 fordert die Schulen in besonderem Maße und hat das Thema Inklusion geschwächt.

Weil?

Zukunftsträchtige Projekte für Menschen mit Behinderung haben nur dann gute Chancen, wenn Menschen den Kopf frei haben. Wir haben aber in den Schulen seit einigen Jahren eine angespannte Situation: wegen eines hohen und steigenden Migrationsanteils und zunehmenden Problematiken in den familiären Strukturen. Hinzu kam Corona. Die Schulen kamen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Es ist spürbar: Je enger die Situation an den Schulen, desto weniger Toleranz für Inklusion und die Bereitschaft etwas dazu beizutragen.

Braucht es denn einen großen Mehraufwand?

Definitiv. Wir benötigen eine sonderpädagogische Grundbefähigung aller Lehrkräfte und die Expertise der sonderpädagogischen Fachrichtung. Es gibt differente Lernansprüche von Menschen mit Behinderung. Dass sich das häufig deckt mit Schülerinnen und Schülern, die in anderer Form benachteiligt sind – es gibt keine klare Scheidelinie zu Menschen mit Beeinträchtigung – ist klar. Die Arbeit muss jeder Lehrer in der Klasse machen. Und sie wird zunehmend als überlastend wahrgenommen.

Das Beratungs- und Förderzentrum (BFZ) koordiniert den Einsatz von Lehrkräften an Regelschulen, hauptsächlich Förderschullehrer, aber auch andere Pädagogen sowie Sozialarbeiter, mit denen Inklusion umgesetzt werden soll. Welche Rolle spielt das BFZ?

Das BFZ gibt es nur in Hessen. Eine transparente Koordinierung ist dadurch in eine Hand gegeben. Es hat eine gute Grundlage, weil das BFZ Strukturen aufbauen kann im inklusiven Schulbündnis (ISB), das wir in Kassel haben. Das ISB ist verpflichtend für alle Schulen im Einzugsgebiet. Aber die allgemeinen Schulen sind auch daran interessiert, weil sie mitreden können und weil es um zusätzlich Ressourcen geht. Ressourcen sind ganz wichtig, sonst funktioniert der Anspruch Inklusion für niemanden. Koordinator ist das BFZ unter Mitwirkung des Staatliche Schulamts.

Wie wichtig ist Prävention?

Sehr wichtig. Beeinträchtigungen sollten frühzeitig festgestellt werden, möglichst schon vor der Grundschulzeit. Alles, was danach kommt, ist ein Wait to fail, das heißt Abwarten, bis interveniert werden muss. Auf die Feststellung eines Bedarfs sollte die Bereitstellung von Ressourcen folgen. Aber für präventive Arbeit haben wir in der Realität nur maximal zehn Prozent der Ressourcen. Das ist deutlich zu wenig.

Wie positioniert sich die Politik?

Die neue Koalition der Landesregierung von Boris Rhein hat da bereits Position bezogen: mit der Ankündigung, das BFZ und das ISB insgesamt zu stärken. Es gibt Ansätze, mit denen sich was machen lässt. Im Koalitionsvertrag steht aber auch die Fortentwicklung und Stärkung von Förderschulen. Bis 2029, dem voraussichtlichen Ende der Wahlperiode, ist der Dualismus von Förderschulen und von inklusivem Unterricht an den allgemeinen Schulen vereinbart. Er will, dass die Förderung eines jeden Kindes mit Beeinträchtigung und Behinderung neue Impulse erfährt. Eine der wichtigsten Änderungen ist, dass die Schulpsychologie näher an das BFZ rückt und damit in den Schulen stärker präsent sein wird. Das ist eine sehr gute Nachricht.

Inzwischen sind in Kassel Förderschulen geschlossen worden. War das richtig?

Die Förderbedingungen für Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen sind in Kassel nicht schlecht. Die Pestalozzischule macht eine gute Arbeit und hat trotz aller Hemmnisse stabile Schülerzahlen.

Reicht das angesichts steigender Schülerzahlen in Kassel aus?

Da wäre ich vorsichtig. Es ist ja die Frage: Wie wird der Förderbedarf festgestellt? Man muss das Kind betrachten und eigentlich über Jahre beobachten. Es gilt durch die Arbeit von BFZ und Schulbündnis in möglichst vielen Fällen einen Förderanspruch gar nicht erst entstehen zu lassen.

Wie sieht die Finanzierung aus?

Es gibt für inklusive Beschulung und Förderschulen nur einen gemeinsamen Topf. Meine Hypothese ist, dass so gerechnet wird: Lässt der Bedarf in einem Bereich nach, so steigt er im anderen proportional. Das ist das Prinzip der kommunizierenden Röhren. Das heißt, wenn jetzt die Zahlen im Bereich geistige Entwicklung und körperliche und motorische Entwicklung steigen, was der Fall ist, dann würde das bedeuten, dass der Bedarf in der inklusiven Bildung in den Regelschulen weniger wird. Das ist die Grundlage für die Zuweisung von Ressourcen durch das Kultusministerium. Doch es funktioniert nicht, weil deutschlandweit die Zahlen dramatisch zunehmen. Das ist das Dilemma zwischen Förderanspruch und -bedarf.

Was also tun?

Es gibt keine einfache Antwort. Das Kultusministerium gibt mehr Lehrkräfte in das System, aber es müssen noch mehr sein: für die Förderschulen und parallel dazu für das ISB. Dazu kommt das Problem des Fachkräftemangels. Inklusion hilft allen. Von Vielfalt geht ganz viel Förderpotenzial aus. Aber das kommt nicht von selbst.

Was muss gemacht werden?

Die Entwicklung der Zahl der Schüler mit Förderanspruch geistige Entwicklung ist enorm. Beispielsweise ist die Alexander-Schmorell-Schule, wo ich lange Schulleiter war, in den letzten 25 Jahren von 130 auf 240 Schüler gestiegen. Hier ist auch die Schulträgerschaft gefordert: Der steigende Bedarf schlägt sich direkt auf einen Mangel an Ausstattung nieder. Die Stadt Kassel hat in der Vergangenheit einiges getan für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung. Es könnte immer mehr sein. Die Kommunen haben auch begrenzte Möglichkeiten. Eine ist, über das Modell „Schulen mit besonderer Ausstattung“ Ressourcen zu bündeln, Vereinsamung von Schülern zu vermeiden und für eine Übergangszeit allgemeine Schulen optimal zu unterstützen. Unser Verband Sonderpädagogik fordert vom Bund ein Förderprogramm, um Länder und Schulträger besser für den Bildungsgang geistige Entwicklung auszustatten. Auch Regelschulen und sämtliche Förderorte brauchen dringend mehr Ressourcen. Wir möchten, dass die Eltern über die Schule ihres Kindes beruhigt sagen: Hier bekommt es die besten Lernangebote, die besten Chancen für sein Leben.

Zur Person

Karl Ludwig Rabe (66), in Hann. Münden geboren, studierte in Köln Sonderpädagogik für körperliche und motorische Entwicklung. Von 1998 bis zu seinem Ruhestand 2023 leitete er die Kasseler Förderschule Alexander-Schmorell-Schule. Rabe ist Landesvorsitzender des Verbands Sonderpädagogik. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Er wohnt mit seiner Familie in Hemeln.

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