Interview

Ein neues Buch entzaubert die Gründerin der Montessori-Schulen: «Nicht Inklusion, sondern Exklusion war ihre pädagogische Leitlinie»

Maria Montessori vertrat rassistische Denkweisen und stand dem Faschismus nahe. Menschen mit einer Einschränkung hielt sie für minderwertig. Die Autorin und Erziehungswissenschafterin Sabine Seichter erklärt im Gespräch, warum die dunklen Seiten Montessoris so lange verborgen blieben.

Andreas Frey 7 min
Drucken
Die als Reformpädagogin bekannte Maria Montessori (1870–1952) im Londoner Stadtteil Hampstead, wo sie am 11. August 1935 einen Kurs für Lehrer aus verschiedenen Ländern gibt.

Die als Reformpädagogin bekannte Maria Montessori (1870–1952) im Londoner Stadtteil Hampstead, wo sie am 11. August 1935 einen Kurs für Lehrer aus verschiedenen Ländern gibt.

Imago

Frau Seichter, Ihr Buch erschüttert das Bild, das viele Menschen von Maria Montessori haben. Sie zeichnen darin eine Frau, die zeitlebens eugenische und rassenideologische Denkweisen vertrat und mit dem Faschismus verquickt war. Warum kommt Montessoris dunkle Seite jetzt erst ans Licht?

Einer der wichtigsten Gründe ist vermutlich, dass ihr Hauptwerk «Antropologia Pedagogica», das in italienischer Sprache 1910 veröffentlicht wurde, erst vor fünf Jahren in deutscher Übersetzung erschien. Diese 600-Seiten-Schrift mit dem deutschen Titel «Pädagogische Anthropologie» war für mich der Anlass, mein Buch zu schreiben. Ich stelle mir darin die Frage, wie Montessori den Menschen und das Kind sieht. Und ich habe in dieser Studie nichts anderes getan als meinen Job als Wissenschafterin: Quellen studieren und analysieren. Hätte man das schon früher getan, dann wäre heute niemand schockiert.

Was haben Sie über Maria Montessori herausgefunden?

Ihr Menschenbild ist – auf dem Boden ihrer Zeit – geprägt von einer Degenerationsangst in kultureller und moralischer Hinsicht. Und diese Angst hat um 1900 die Rassenanthropologie sehr stark befördert. In diesem Denken bewegt sich Montessori, die übrigens keine Pädagogin war und sich auch so nicht bezeichnete.

Die Pädagogikprofessorin Sabine Seichter von der Universität Salzburg setzt sich in ihrem neuen Buch «Der lange Schatten Maria Montessoris» (Beltz-Verlag, 2024) kritisch mit der italienischen Ärztin auseinander.

Die Pädagogikprofessorin Sabine Seichter von der Universität Salzburg setzt sich in ihrem neuen Buch «Der lange Schatten Maria Montessoris» (Beltz-Verlag, 2024) kritisch mit der italienischen Ärztin auseinander.

Presse

Was war sie dann?

Ärztin und Biologin. Wenn man ihre Anthropologie durcharbeitet, findet man Zeichnungen von «degenerierten Rassen». Sie unterscheidet zwischen «höheren» und «niederen Rassen», zwischen «weiterentwickelten» und «nicht fortschrittlichen Rassen». Ihr Denken ist sehr stark auf den Grundbegriff der Rasse hierarchisierend, stigmatisierend und nicht zuletzt diskriminierend.

Wie sah ihr Menschenbild genau aus?

Sie unterscheidet bis zu ihrem Tod zwischen «anormalen» und «normalen» Menschen. Die «anormalen» Menschen kennt sie von ihrer Arbeit als Ärztin in einer psychiatrischen Klinik, die sogenannten Idioten, ein durchaus gängiger Begriff jener Zeit. Heute würde man diese Menschen als körperlich und intellektuell eingeschränkt bezeichnen, für Montessori sind es «minderwertige» Menschen. Dieses «Anormale» ist Montessori zufolge angeboren: Körperliche Fehlbildungen bedeuten gleichsam moralische Rückschritte. Für sie ist das untrennbar: Wer körperlich defekt ist, ist auch moralisch defekt. Eine Idee, die übrigens schon die Griechen kannten.

Für Montessori sei das der Grund gewesen, die «Schwachen» von den «Normalen» zu trennen, um die Verbesserung und Perfektionierung der «normalen» Kinder nicht durch die «Anormalen» zu gefährden, schreiben Sie in Ihrem Buch.

Die «Anormalen» sollten von den «Normalen» getrennt werden, weil man die Hoffnung hegte, eine bessere Gesellschaft zu formen. Für Montessori kann die bessere Gesellschaft nur mit dem «neuen Kind» gebildet werden, das sie als «Messias» hypt. Diesen Messias stellt sie sich vor als Inkarnation einer griechischen Schönheitsstatue. Ästhetisch perfekt, körperlich vollkommen, moralisch und intellektuell gebildet. Da ein «Anormaler» das nie erreichen kann, gilt ihre ganze Aufmerksamkeit dem «normalen Kind».

Bis heute hält sich der Mythos, sie sei die Begründerin der Inklusion.

Ich kann aufgrund der Lektüre ihrer Anthropologie nicht erkennen, dass nur ein Hauch von Inklusion denkbar wäre. Nicht Inklusion, sondern Exklusion war ihre pädagogische Leitlinie.

Sie hat die «Anormalen» sogar als «Parasiten» und «Monster» bezeichnet.

Auch als Hässliche. Sie schreibt wörtlich: «Die Schwachen belasten als Parasiten das soziale Gefüge der normalen Menschen und müssen allein schon aus diesem Grund von den Normalen separiert werden.» Das ist heute natürlich klar rassistisch und diskriminierend, aber in ihrer Logik als Biologin durchaus konsequent. Nur das Normale, Vollkommene ist ihrer Ansicht nach biologisch perfekt. Nur die höhere Rasse ist die schöne Rasse. Damit meint sie die «Übermacht der weissen Rasse». Sie hatte sogar die Vision, den gesunden, schönen und intelligenten Menschen eines Tages gentechnisch zu züchten.

Die DNA wurde später entschlüsselt. So blieb ihr nur der pädagogische Weg?

Ja. Sie sah den Weg zu einer besseren, fortschrittlicheren Gesellschaft in der Erziehung. Ihr blieb ja nichts anderes übrig, als nur am Phänotyp, dem Erscheinungsbild des Menschen, herumzumodeln. Auf den Genotyp hatte man noch keinen Einfluss.

Welches Ziel hatte diese Erziehung, und welche Rolle nahmen die Kinder ein? Heute beanspruchen Montessori-Einrichtungen eine Pädagogik, die von Vielfalt, Achtsamkeit, Freiheit, Unabhängigkeit, Selbständigkeit und eigenem Lerntempo geprägt ist.

Das Oberziel war die Schaffung einer besseren, fortschrittlicheren Gesellschaft, die «endlich nun befreit ist von aller Degeneration». Da sie die Kinder als potenzielle Erbauer einer neuen Gesellschaft begriff, hat sie das Kind schon immer gesehen, aber nicht das individuelle Kind. Das Kind konnte sich nur in dem Sinne frei und im eigenen Tempo entwickeln, als dass so getan wurde, als ob das Kind in einer vorbereiteten Umgebung sich frei mit den Materialien beschäftigte. Aber die waren eben nicht frei wählbar. Die Materialien wurden ja von den Erwachsenen arrangiert. Das Ideal war, dass das Kind, wie gesteuert von einer unsichtbaren Hand, sich so entfaltet und entwickelt, wie der immanente Bauplan es vorgesehen hat. Die Entwicklung des Kindes ist also seit seiner Geburt biologisch angelegt. Aus dem Kind kann nur das werden, was im Kind steckt.

Aber frei entfalten können sich die Kinder doch bei Montessori.

In einem heutigen Kinderhaus wahrscheinlich schon, aber in einem ursprünglichen nicht. Die Freiheit, die Montessori meinte, war nicht im Sinne einer humanistischen, phantasievollen oder schöpferischen Freiheit, sie ist wiederum eine biologische Freiheit. Diese endet dort, wo die genetischen Anlagen des Kindes enden. Und deshalb werden sie in einem ursprünglichen Kinderhaus von Montessori völlige Ordnung und völlige Stille vorfinden, mit hochkonzentrierten Kindern, die nicht spielen, sondern bei Montessori arbeiten. Es ist eine Arbeit am Selbst, die letzten Endes zu einer Selbstoptimierung führen soll.

In vielen Ländern entstanden Schulen, die das Bildungskonzept Montessoris anwandten. Hier ein Kindergarten in Neapel (Aufnahmedatum unbekannt).

In vielen Ländern entstanden Schulen, die das Bildungskonzept Montessoris anwandten. Hier ein Kindergarten in Neapel (Aufnahmedatum unbekannt).

Imago

Über diese Seite Montessoris hört und liest man bis heute fast nichts. Wie ist das möglich?

Zum jahrzehntelangen und bis heute anhaltenden Erfolg Montessoris gehört die unbedingte, unwissende und kritiklose Gefolgschaft ihrer Anhänger, sowohl in der Wissenschaft als auch in der erzieherischen Praxis. Im Mittelpunkt steht eine gemeinsame Glaubensbekundung für die meist unhinterfragten Entwicklungsvorstellungen vom Kind, die wie ein Allheilmittel für alle Gebrechen der Zeit anmuten. Das naturalistisch-eugenische Denken der Meisterin wird dabei völlig tabuisiert und beschönigt. Besonders in der deutschsprachigen Rezeption wird sie bis heute stark romantisierend als kinderliebe, christgläubige und praktisch tätige Reformpädagogin verehrt, bedingungslos angebetet und zu einer Ikone, ja einer Heiligenfigur stilisiert.

War Montessori nur ein Produkt ihrer Zeit? Aus heutiger Sicht lässt sich ihre Denkweise sehr einfach kritisieren.

Diese These ist nicht haltbar. Sie hat sich zeitlebens nie von den Verstrickungen mit Mussolini oder von einem rassenanthropologischen Weltbild distanziert, auf dessen ähnlichen Grundlagen auch das millionenfache Morden des Nazi-Regimes stattgefunden hat. Selbst nach den unfassbaren Greueltaten des Zweiten Weltkriegs hielt Montessori unbeirrt an ihrem Glauben an eine «Kultivierung der Menschheit» kraft Eugenik und Rassenideologie fest. Übrigens gab es um 1900 ja auch ganz andere Pädagogen und pädagogische Ansichten, die ohne rassenanthropologische Grundlagen ausgekommen sind. Es musste nicht jeder so denken.

Und trotzdem ist der Mythos Montessori so lebendig wie nie. Für alle Lebenslagen wird mittlerweile etwas mit Montessori angeboten.

Man muss deshalb trennen zwischen der Denkerin Montessori und dem Mythos Montessori. Schon in ihrem früheren Leben hat man nur von ihr gesehen, was man sehen wollte. Zugespitzt gesagt: Dort, wo Montessori draufsteht, muss nicht Montessori drin sein.

Wie entstand dieser Mythos?

Der Mythos ist schon zu ihren Lebzeiten entstanden; und Montessori hat selbst ordentlich daran gearbeitet. Sie war ein Medienstar, eine Menschenverführerin, hat sich perfekt vermarktet. Sie sprach die Menschen emotional an und reicherte ihre Vorträge mit biblischen Erlösungsmetaphern an. Zu Lebzeiten hat sie ein internationales Netzwerk geknüpft und Gesellschaften gebildet. Heute ist Montessori eine Marke, ein verzweigtes Wirtschaftsunternehmen. Meine Erkenntnisse passen gar nicht in das Bild, das man von der kinderlieben Tante hat. Die Kluft, die zwischen beidem besteht, ist aber unüberbrückbar.

Maria Montessori erhält die Ehrendoktorwürde der Universität von Amsterdam (18. September 1950).

Maria Montessori erhält die Ehrendoktorwürde der Universität von Amsterdam (18. September 1950).

Imago

Aber die heutigen Montessori-Einrichtungen haben doch mit dem Weltbild ihrer Gründerin nichts mehr am Hut.

Das macht die Sache nicht besser. Ich frage mich in jüngster Zeit, wo jetzt auch unliebsame Stimmen laut werden, weshalb sich Einrichtungen dann Montessori nennen, wenn sie mit dieser Montessori nichts zu tun haben möchten. Das begreife ich nicht. Man pickt sich das heraus, was einem lieb ist, und von dem anderen möchte man nichts wissen. Das ist doch irrwitzig.

Wie sollen die Einrichtungen denn reagieren?

Die Einrichtungen müssen selbst entscheiden, wie man mit dem Wissen umgeht. Man kann ja sicher vieles gutheissen. Mir liegt es völlig fern, das komplette Gedankensystem negativ zu betrachten. Vielleicht ist die Pädagogik, die dort stattfindet, super. Aber vielleicht ist es genau deshalb der Fall, weil sie nichts mit Montessori zu tun hat.

Reagiert man in der Erziehungswissenschaft denn aufgeschlossener auf die Kritik?

Es gab einige wenige Kolleginnen in der letzten Zeit, die diese Gedanken, die ich nun in Länge ausgeführt habe, klar und deutlich geäussert hatten. Und die wurden dann als argwöhnische Kritiker oder als Nestbeschmutzerinnen diffamiert. Es gibt also auch in der Lehre Verdrängung und Tabuisierung. Montessori wird bis heute unhinterfragt zu den Klassikern der Pädagogik gezählt, obwohl sie keine Pädagogin war. Ich denke, dass die deutschsprachige Rezeption anders oder wenigstens vielschichtiger ausgefallen wäre, wenn ihr Hauptwerk von 1910 viel früher auf Deutsch vorgelegen wäre. So konnte man immer sagen: «Ich weiss davon nichts, das kann ich nicht nachprüfen.» Seit 2019 kann nun wirklich niemand mehr sagen, er wisse davon nichts. Aber selbst in den fünf Jahren seither blieb das Thema im öffentlichen und fachlichen Diskurs weitgehend unberücksichtigt.

Montessori in der Schweiz

Die Montessori- Einrichtungen und -Schulen in der Schweiz sind staatlich bewilligt, aber privat organisiert. Der Betrieb wird in der Regel über Schulgelder durch die Eltern sowie Spenden finanziert. In der Schweiz gibt es rund 70 Einrichtungen für 2700 Kinder von 0 bis 12 Jahren, die vom Verein Assoziation Montessori Schweiz lizenziert worden sind. (pim.)

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

Weitere Themen