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Armin Himmelrath

SPIEGEL-Bildungsnewsletter Maue Bilanz nach 15 Jahren Inklusion

Gemeinsames, inklusives Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Förderbedarf, dazu hat sich die Bundesrepublik 2009 verpflichtet. Eineinhalb Jahrzehnte später warten die Betroffenen noch auf entscheidende Schritte.

Lernen an einer Regelschule, für alle Kinder und ganz unabhängig von ihrer persönlichen Situation: Das ist der Anspruch der Uno-Behindertenrechtskonvention, die heute vor 15 Jahren, am 26. März 2009, in Deutschland in Kraft trat. Geregelt ist das in Artikel 24 der Konvention, wo das Recht auf inklusive Bildung festgehalten ist. Wenn Sie selbst nachlesen möchten: Hier finden Sie die Konvention in Alltagssprache .

Foto: Nikada / Getty Images

Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen nach 15 Jahren noch ziemlich weit auseinander. »Für Inklusion braucht es einen langen Atem, und der scheint manchem in Deutschland auf halbem Weg schon auszugehen«, sagt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Britta Schlegel vom Deutschen Institut für Menschenrechte sagt: »Auch 15 Jahre nach Inkrafttreten hat die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen vielerorts nicht die notwendige politische Priorität oder steht unter Ressourcenvorbehalten.« Das müsse sich dringend ändern, fordert Schlegel, denn: »Menschenrechte sind nicht verhandelbar.« (»Debatte der Woche«)

Ansonsten sind Sie – hoffentlich – gerade in halbwegs entspannter Osterferienlaune. In 15 Bundesländern ist diese Woche nämlich unterrichtsfrei. Lediglich in Schleswig-Holstein beginnen die Osterferien erst am Dienstag nach Ostern, dauern dafür aber auch bis zum 19. April. Solidarische Grüße deshalb in dieser Woche an alle Lehrerinnen und Lehrer im hohen Norden, die in den Klassenzimmern die Stellung halten.

Zumindest müssen aktuell keine Zeugnisse erstellt werden. Um die zuletzt ausgegebenen hat es in Thüringen ein bisschen Aufregung gegeben: Auf den Halbjahreszeugnissen im Land fehlen insgesamt 51.232 Noten – Unterrichtsausfall und Lehrkräftemangel sei Dank.

Zum Lehrermangel gibt es, immerhin, ein paar neue Ideen der Kultusministerkonferenz – dazu unten mehr. (»Das ist los«)

Wie immer freuen wir uns auch in dieser Woche über Lob, Kritik und Themenanregungen zur »Kleinen Pause« – gern per E-Mail an bildung@spiegel.de . Wir wünschen Ihnen ein frohes Osterfest!

Ihr Armin Himmelrath
Für das Bildungsteam des SPIEGEL

Mehr und bessere Leute gesucht: Die Kultusministerinnen und -minister krempeln die Lehrerausbildung um

Mehr und bessere Leute gesucht: Die Kultusministerinnen und -minister krempeln die Lehrerausbildung um

Foto:

Maskot / Getty Images

Das ist los

1. Schritte gegen den Lehrkräftemangel

Wie viele Lehrerinnen und Lehrer fehlen denn nun bundesweit bis 2035? Es kommt ganz darauf an, wen man fragt: 68.000, 115.000 oder sogar 180.000 werden von verschiedenen Fachleuten genannt – die niedrigste Schätzung kommt übrigens von der Kultusministerkonferenz (KMK). Doch auch die hat erkannt, dass das Problem drängt – und deshalb angeregt, die starren Regeln der Lehrkräfteausbildung aufzubrechen.

»Ermöglichungspapier« heißt der Beschluss und gibt die Rechnung vor: Alles soll beim Alten bleiben, aber Neues hinzukommen. Heißt: Zwei Fächer, Master oder Staatsexamen und dazu noch 12-24 Monate Referendariat werden auch in Zukunft der Standardweg ins Lehramt sein. Zusätzlich geben soll es in Zukunft aber auch:

  • Lehrerinnen und Lehrer mit nur einem Unterrichtsfach

  • Duale Lehramtsstudiengänge, bei denen das Referendariat schon im Master integriert wird

  • Quereinstiege über ein Lehramts-Master-Studium.

Meine Kollegin Silke Fokken hat die Pläne der KMK genauer unter die Lupe genommen, ihren Text finden Sie hier.

2. Gewalt an Schulen

Bei der Überschrift haben Sie jetzt an Messer in Schülerhänden gedacht, an Prügelattacken auf dem Schulhof, an Cybermobbing – stimmt’s? Man könnte aber auch an den Lehrer aus Cottbus denken, der wohl zwei Schüler mit Zuwanderungsgeschichte angegriffen hat und mittlerweile suspendiert wurde. In Cottbus hat das in der Folge ziemliche Unruhe  ausgelöst.

Meine Kollegin Kristin Haug hat über die scheinbar zunehmende Gewalt im Schulkontext ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Psychologen Herbert Scheithauer geführt. Der ist Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der FU Berlin und sagt, dass die öffentliche Wahrnehmung und die Realität nicht deckungsgleich seien.

»Es gibt weniger Gewaltvorfälle als noch vor 15 oder 20 Jahren«, betont Scheithauer in dem lesenswerten Interview, »aber wir nehmen diese Taten intensiver wahr, weil auch die Medien mehr darüber berichten und sie in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Und sie lösen natürlich zu Recht Ängste aus, gerade bei denen, die dann ihre Kinder zum Unterricht schicken oder in der Schule arbeiten. Zugleich haben Lehrkräfte eine höhere Sensibilität gegenüber diesen Vorfällen und melden Fälle, die sie früher nicht gemeldet hätten.« Das ganze Interview finden Sie hier .

Zum Gewaltthema gehört ganz sicher auch der Fall einer 16-jährigen Gymnasiastin aus Ribnitz in Mecklenburg-Vorpommern, die angeblich die Polizei auf den Hals gehetzt bekam, weil sie ein eher harmloses AfD-Schlumpf-Video auf TikTok verbreitet haben soll. Schaut man sich den Fall genauer an, sieht das Ganze allerdings eher nach einer orchestrierten Kampagne von rechts gegen den Schulleiter aus – der erlebt gerade Onlinegewalt in einem ziemlich großen Ausmaß .

Noch ein letzter Tipp zum Thema, diesmal zum Hören: Das Radiofeature »Das innere Kettenhemd der Lehrkräfte«  befasst sich ebenfalls mit Gewalterfahrungen in der Schule.

Kinder nutzen künstliche Intelligenz: 49 Prozent sehen Gefahr, durch KI-Tools das Lernen zu verlernen

Kinder nutzen künstliche Intelligenz: 49 Prozent sehen Gefahr, durch KI-Tools das Lernen zu verlernen

Foto: mikimad / E+ / Getty Images

3. Die digitale Schule – und was ist mit der KI?

Vielleicht haben Sie ja auch aufgeatmet, als vorvergangene Woche klar wurde, dass der Digitalpakt 2.0 vorläufig noch einmal vor dem Scheitern bewahrt wurde. Bund und Länder haben sich ziemlich verhakt bei den Verhandlungen, der Ton zwischen den Ebenen ist eisig .

Immerhin soll es neue Gespräche im April geben, aber aus der Verhandlungsgruppe hören wir, dass die Fortsetzung des Digitalpakts längst noch nicht in trockenen Tüchern ist.

Da ist es vielleicht kein Wunder, dass die Schülerinnen und Schüler selbst für digitale Disruption in der Schule sorgen: Viele setzen KI-Programme längst beim Lernen und beim Lösen von Aufgaben ein. Einer Studie der Vodafone Stiftung zufolge sehen 73 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler KI eher oder sogar eindeutig als Chance, nur 27 Prozent sehen eher Gefahren.

An den Schulen ist die künstliche Intelligenz aber kaum Thema: Nur 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen gaben an, dass die KI-Nutzung an ihrer Schule erlaubt sei und es dazu Regeln gebe. Ansonsten hängt es der Umfrage zufolge von einzelnen Lehrkräften ab, wie damit umgegangen wird (38 Prozent). Ein weiterer beachtlicher Anteil (38 Prozent) der Befragten gab an, dass die Nutzung von KI an ihrer Schule noch gar kein Thema sei.

4. Und sonst?

Noch mal KMK: Die Kultusministerinnen und -minister haben als Reaktion auf schlechte Schulleistungen (Pisa, Iglu, IQB-Bildungstrend und so weiter) für die Grundschulen feste Stundenkontingente für bestimmte Fächer vereinbart. Damit soll ein bundesweit einheitliches Schulfundament geschaffen werden: Deutsch, Mathematik und Sachunterricht sollen an allen Grundschulen der Republik zusammen mehr als die Hälfte des Unterrichts ausmachen.

Debatte der Woche

Wie gut steht Deutschland 15 Jahre nach Inkrafttreten der Uno-Behindertenrechtskonvention in Sachen inklusive Schulbildung da? Nicht besonders gut, analysiert nicht nur Kollegin Jeannette Otto in der »Zeit« . Auch betroffene Elternverbände und Initiativen in mehreren Bundesländern sehen das so. Im Folgenden finden Sie ausgewählte Statements.

»NRW verstößt gegen die UN-Konvention und gegen das eigene Schulgesetz«, sagt Eva-Maria Thoms vom Verein »mittendrin e.V.«. Nach 15 Jahren Rechtsgültigkeit der Behindertenrechtskonvention baue Nordrhein-Westfalen nicht die inklusive Bildung aus, sondern das Förderschulsystem. Das Land bewege sich in der Schulpolitik damit »rückwärts statt vorwärts«.

Im Vergleich zu anderen Bundesländern gelte Hamburg zwar als erfolgreich, was die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention angeht, sagt Silke Brockerhoff, die sich für Inklusion einsetzt: »Trotzdem ist die Stadt auch 15 Jahre nach Unterzeichnung der Konvention immer noch weit entfernt von einem inklusiven Bildungssystem für alle.« Denn die meisten Kinder und Jugendlichen, die in Hamburg inklusiv beschult werden, besuchen Grundschulen und Stadtteilschulen. An Gymnasien findet Inklusion nach wie vor kaum statt. Und: »Mehr als die Hälfte aller Hamburger Schülerinnen und Schüler mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen besucht nach wie vor eine Sonderschule.«

»Mecklenburg-Vorpommern gibt bis heute Millionen für exkludierende Sonderschulen aus und verhindert damit strukturell das Grundrecht auf Teilhabe an gemeinsamer Bildung für alle Kinder«, stellt Kathrin Muhs für den Nordosten der Republik fest. Für sie ist das untragbar: »Das Festhalten an der Institution Sonderschule verletzt das Grundrecht auf diskriminierungsfreie Teilhabe und damit die Würde des einzelnen Kindes.«

Sie haben Anmerkungen, Erfahrungen, Gedanken zur schulischen Inklusion? Immer her damit – wir freuen uns über Zuschriften an bildung@spiegel.de .

SPIEGEL Ed

Nicht fehlen soll an dieser Stelle der Hinweis auf unsere Bildungsinitiative SPIEGEL Ed. Sie entwickelt freie Unterrichtsmaterialien zum Thema politische Medienbildung ab Klasse 3. Schauen Sie gern mal rein – und wenn es passt, dann holen Sie sich doch auch gern einen Workshop zum Thema Medienkompetenz in Ihre Klasse. Das kostet Sie nichts und ist für alle Seiten ein Gewinn.

Damit verabschieden wir uns bis zur nächsten »Kleinen Pause«. Das Team der »Kleinen Pause« dankt für Ihr Interesse und Ihre Anregungen!