Das Experiment: Wie es anfing mit der Inklusion

Die 5.3 war keine Klasse, sie war ein "wilder Haufen". Mehmet muss es wissen, er gehörte damals selbst dazu, zum großen Inklusions-Experiment. 2011 kam er als Fünftklässler an die Gesamtschule Bremen Ost (GSO), wohin er an diesem Dienstagnachmittag im März noch einmal zurückkehrt. Ein bisschen abgekämpft vom Job. Mehmet ist heute 23. Genau wie Onur, sein früherer Mitschüler, der auch gekommen ist. Die beiden kennen jeden Winkel in der Schule, haben hier Deklinieren und Dividieren gelernt, Englisch, Weitsprung und Theaterspielen, sie sind zusammen verreist, haben gelacht, gestritten, geheult.

Die 5.3 war eine der ersten Inklusionsklassen in Deutschland: Vier "Kinder mit besonderem Förderbedarf", wie das in der Sprache der Sonderpädagogik heißt, saßen plötzlich mittendrin. Später kam ein weiterer Schüler hinzu. "Wir sind eine besondere Klasse, mit besonderen Kindern", sagten die Lehrer, um Lärm und Chaos zu erklären. Immer störte einer, immer verstand einer die Aufgabe nicht; es wurde gemobbt und geprügelt. Die anderen im Jahrgang zeigten auf dem Schulhof mit dem Finger auf die "I-Klasse" – und auf den autistischen Jungen, der besonders besonders war. Onur stand in der Pause oft bei ihm, auch Onur war ein Inklusionskind. Sein Markenzeichen: Quietschen, Singen, Schnalzen, in Dauerschleife Werbesprüche aufsagen. Die Klasse wunderte sich und machte mit. "Ein Spektakel war das", sagt Onur heute.

Über sechs Jahre lang hat die ZEIT immer wieder von dieser Klasse erzählt. Der letzte Artikel erschien im Sommer 2017, als die Zehntklässler ihre Abschlusszeugnisse bekamen. Nun also ein Besuch nach vielen Jahren Pause. Gewöhnung hat die Aufregung über das Unbekannte abgelöst. Inklusion? Ach! Achselzucken. Daran verzweifelt an der GSO keiner mehr. Schüler mit Handicap sitzen in fast jeder Klasse. Dass ein Kind mit Helm durch die Flure läuft und andere so starke Beeinträchtigungen haben, dass sie stets den eigenen Assistenten an der Seite haben – Alltag, selbstverständlich.

Zumindest in Bremen, wo man die inklusive Schule ins Schulgesetz schrieb. Direkt nachdem Deutschland am 26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hatte. Kein anderes Bundesland nahm den Auftrag, Kinder mit Behinderungen in die Regelschulen aufzunehmen, so ernst wie die Hansestadt. Bremen machte radikal Schluss mit dem Aussortieren.

Wie aber hat die Idee des gemeinsamen Lernens auch den Rest des Landes verändert? Was ist das Versprechen auf gleiche Bildungschancen heute noch wert? Wer profitiert, und wer verliert?

Kein Nachteil: Inklusion nützt allen

Mit großer Klarheit räumt die Forschung ein Argument aus dem Weg, das häufig Eltern gegen Inklusion vorbringen: dass Kinder ohne Behinderung in inklusiven Klassen untergehen. Keine Studie bestätigt diese Sorge. Im Gegenteil: Die vermeintlich "normalen" Schüler bringen ihre Leistung, entfalten ihr Potenzial und haben keinerlei Nachteile.

Die Kinder mit Förderbedarf wiederum lernen an der Regelschule mehr und schneller. So kommen Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen und Sprache zu besseren Leistungen in Mathe und Deutsch. Gegenüber Kindern an den Förderschulen gibt es deutliche Lernvorsprünge. Ergebnisse der Bielefelder Längsschnittstudie BiLief etwa zeigen: Ein inklusiv beschultes Kind mit Lernbeeinträchtigungen erreicht bereits zu Beginn der dritten Klasse ein höheres Leistungsniveau als ein Kind auf der Förderschule am Ende der vierten Klasse. Das bedeute nicht, dass Schüler auf Förderschulen keine Fortschritte machen, sagt die Schulforscherin Birgit Lütje-Klose: "Die Lernkurve an der Regelschule verläuft für viele Kinder mit Förderbedarf aber steiler." Sie profitierten vor allem, wenn sie auf "gute Schulen" gingen, sagt Lütje-Klose. "Das sind Schulen mit hohem pädagogischen Ethos, mit multiprofessionellen Teams und Lehrkräften, die genau diagnostizieren, welche Unterstützung der einzelne Schüler braucht, und dann gezielt fördern."