Deutsche Lehrkräfte sehen sich für die diverse Zusammensetzung von Schulklassen nicht gut gewappnet. Das geht aus dem Deutschen Schulbarometer 2024 der Robert Bosch Stiftung hervor. Dafür wurden bundesweit 1.608 Lehrkräfte unterschiedlicher Schulformen nach repräsentativen Kriterien befragt. "Insgesamt betrachtet sehen Lehrkräfte eine inklusive Beschulung eher kritisch", heißt es in der Studie.

Inklusion bezeichnet eigentlich die gemeinsame Teilnahme am Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne besonderen Förderbedarf, Lernschwächen und körperlichen oder geistigen Behinderungen. Die Autorinnen und Autoren der Studie legen diesen Begriff jedoch deutlich allgemeiner aus und weichen dabei von der landläufigen Definition teils stark ab. So beziehe sich ein "umfassendes und breites Verständnis von Inklusion" auch auf unterschiedliche ethnische und kulturelle Herkunft, verschiedenes Sprachverständnisniveau und Flucht- und Migrationserfahrungen der Schülerinnen und Schüler. Faktoren wie Migrationshintergrund, religiöse Orientierung und Hochbegabung gehörten ebenfalls dazu.

Mehrheit der Lehrkräfte sieht Inklusion nicht als gewinnbringend für alle

Demnach geben 68 Prozent der Lehrkräfte an, dass die Qualität des Unterrichts unter der Heterogenität von Schülerinnen und Schülern, also den starken Unterschieden innerhalb einer Klasse etwa bei Leistung und sozialer Herkunft, leide. Mehr als drei Viertel sehen einen Mangel an spezieller Unterstützung für Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen. Als eine große Belastung nehmen 71 Prozent der Lehrkräfte die Inklusion wahr. Der Aussage, dass Inklusion für alle Schülerinnen gewinnbringend sei, widersprechen 55 Prozent der Lehrkräfte.  

Nur knapp mehr als die Hälfte der Lehrkräfte gibt an, ihren Unterricht so gestalten zu können, dass er allen Schülerinnen und Schülern gerecht wird. Zugleich sehen sich 81 Prozent dazu in der Lage, das Unterrichtsangebot an die unterschiedlichen Lernstände der Schülerinnen anzupassen.

Quantität und Qualität von Förderangeboten an ihren Schulen bewerteten Lehrkräfte im Schnitt mit den Noten drei und vier. Am besten sei die Förderung für leistungsschwache Schüler ausgestaltet (Note 3,0), am schlechtesten die Förderangebote für hochbegabte Schülerinnen (3,6) sowie Angebote zur Förderung der jeweiligen kulturellen und ethnischen Identität (3,6). Generell wird die Zahl von Förderangeboten besser bewertet als deren Qualität.

Verhalten von Schülern als größte Herausforderung

Die kritische Einstellung zur Inklusion wird auch in den Angaben der befragten Lehrkräfte dazu, was sie als größte Herausforderung in ihrem Berufsalltag sehen, sichtbar. Das Verhalten ihrer Schüler nannten dabei 35 Prozent als wichtigsten Faktor, die Heterogenität von Klassen als zweitwichtigsten mit 33 Prozent – wobei hier vor allem in Grundschulen der Wert mit 45 Prozent besonders hoch war.

Erst danach folgen Faktoren wie Zeit- und Personalmangel, Bildungspolitik und die Beziehung zu den Eltern. Nur zehn Prozent betrachten die Digitalisierung als größte Herausforderung. Mit damals 34 Prozent hatten die Lehrkräfte auch im vergangenen Jahr das Verhalten ihrer Schülerinnen als größte Herausforderung betrachtet.

Verhaltensauffälligkeiten gebe es mit 46 Prozent an beruflichen Schulen am häufigsten, an Grundschulen mit 25 Prozent am seltensten. Der Wert an beruflichen Schulen sei gegenüber dem Vorjahr um zehn Prozentpunkte gestiegen, heben die Studienautorinnen und -autoren hervor. 

"Momentaufnahme eines kranken Systems"

Bei der Frage nach dem Verbesserungsbedarf an der eigenen Schule gaben 41 Prozent an, sich mehr Personal zu wünschen. 35 Prozent nannten Sanierung, Renovierung und Investitionen als wichtigsten Bedarf, 21 Prozent kleinere Klassen. Eine Änderung der Unterrichtsinhalte hielten nur acht Prozent der befragten Lehrkräfte für notwendig, mehr individuelle Förderung von Schülerinnen sieben Prozent.

Lehrer müssten die "Folgen des massiven Personalmangels ausgleichen und immer neue Belastungen bewältigen", sagte dazu die Leiterin des Bereichs Bildung der Robert Bosch Stiftung, Dagmar Wolf. Das führe dazu, dass Berufseinsteigerinnen und -einsteiger "den Schuldienst gar nicht erst antreten oder schnell wieder verlassen" wollten. "Wir sehen in den Ergebnissen die Momentaufnahme eines kranken Systems."

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Sichtbar wird in der Studie auch, dass sich die Herausforderungen des Schulalltags nur bedingt in dem Inhalt von Fortbildungen, die Lehrkräften angeboten werden, widerspiegeln. So gaben beispielsweise zwar 65 Prozent der Lehrkräfte an, sich in den zwölf Monaten vor der Befragung bei digitalen Medien fortgebildet zu haben. Nur 23 Prozent hatten jedoch Fortbildungen zu pädagogischen Kompetenzen, 21 Prozent zur Klassenführung und 9 Prozent zum Umgang mit einer multikulturellen und vielsprachigen Schülerschaft wahrgenommen.

Nur wenig Fortbildung im internationalen Vergleich

Hier zeigen sich laut der Robert Bosch Stiftung große Unterschiede im internationalen Vergleich. So hätten in der Talis-Studie der OECD von 2018 22 Prozent der Lehrkräfte angegeben, sich in Bezug auf eine multikulturelle Schülerschaft fortgebildet zu haben. Fortbildungen zu ihren pädagogischen Kompetenzen nahmen demnach mit 73 Prozent mehr als dreimal so viele Lehrkräfte wahr als in Deutschland. Auch in den Kategorien Methoden der Leistungsbeurteilung, Lehrplankenntnis und fächerübergreifenden Fähigkeiten bildeten sich deutsche Lehrkräfte im internationalen Vergleich deutlich weniger fort.

Die meistgenutzte Art der Fortbildung sei mit 65 Prozent Nutzung innerhalb der vergangenen zwölf Monate das Lesen von Fachliteratur, gefolgt von Präsenz- und Onlineseminaren. An Bildungskonferenzen nahmen demnach mit 21 Prozent deutlich weniger deutsche Lehrkräfte teil als im internationalen Vergleich (49 Prozent). Auch die Vernetzung von Lehrkräften untereinander sei mit ebenfalls 21 Prozent nur etwa halb so hoch wie in der OECD insgesamt (40 Prozent).

"Im internationalen Vergleich sind unsere Lehrkräfte hier noch viel zu sehr auf sich selbst fokussiert", sagte dazu die Bereichsleiterin Bildung Wolf. Es fehle ein Austausch in Lehrernetzwerken über die eigene Schule hinaus. "Wir brauchen in Deutschland eine Kultur des gemeinsamen Lernens", in der sich Fortbildungen mit einer "systematischen Feedback-Kultur ergänzen". Derzeit erhalte fast eine von vier Lehrkräften innerhalb eines Jahres keinerlei Feedback.

Nicht nur den von den Lehrkräften wahrgenommenen Herausforderungen im Schulalltag, sondern auch ihren eigenen Prioritäten werde die Weiterbildung nicht gerecht. So gaben 68 Prozent der Lehrkräfte an, soziale Kompetenzen und Selbstkompetenz seien die wichtigsten Fähigkeiten, die Schulen heutzutage Kindern und Jugendlichen vermitteln müssten. 

Dazu gehörten beispielsweise Empathie, Selbstständigkeit und Eigenverantwortung und Selbstbewusstsein. Die Wissensvermittlung stehe mit 47 Prozent an zweiter Stelle, gesellschaftliche Werte wie Toleranz und Respekt mit 31 Prozent an letzter Stelle zusammen mit kognitiven Fähigkeiten (ebenso 31 Prozent) wie kritischem Denken und Problemlösung.

Gewalt vor allem an Schulen in sozial benachteiligter Lage

In der Studie wurden die Lehrkräfte auch zur Häufigkeit von Gewaltvorfällen an ihrer jeweiligen Schule befragt. 47 Prozent gaben an, dass es an ihrer Schule Probleme mit sowohl physischer als auch psychischer Gewalt gebe. 

Dabei nehmen die Studienautorinnen und -autoren ein sehr weites Gewaltverständnis als Grundlage. Unter die Kategorie physische Gewalt fielen etwa "körperliche Auseinandersetzungen unter den Schüler:innen" wie "prügeln, schlagen, schubsen", sagte ein Sprecher der Robert Bosch Stiftung ZEIT ONLINE. Unter psychischer Gewalt würden "Mobbing, Cybermobbing, Beleidigungen" sowie "Diskriminierungen anhand der Kategorien soziale/kulturelle Herkunft, Geschlecht, Religion, Behinderungen" verstanden. 

Eine Differenzierung nach jeweiliger Art und Schwere von Gewaltvorfällen sowie die Erhebung konkreter Zahlen dazu fand im Rahmen der Studie nicht statt.

Deutlich häufiger als in allen Schulen insgesamt komme es an Schulen in sozial benachteiligter Lage zu Gewaltvorfällen: 69 Prozent der Lehrkräfte an solchen Schulen sahen darin ein Problem. Unabhängig von der Lage waren auch die Werte an Förder- und Sonderschulen sowie an Haupt-, Real- und Gesamtschulen überdurchschnittlich hoch. Dem gegenüber sagten nur 29 Prozent der Lehrkräfte von beruflichen Schulen, es gebe Probleme mit Gewalt.  

Drei Viertel der Lehrer mit ihrem Beruf zufrieden

Die psychosoziale Unterstützung an Schulen sahen 57 Prozent der befragten Lehrkräfte als ausreichend an. Mit 45 Prozent war hier der Wert bei Grundschulen am niedrigsten, an Gymnasien mit 66 Prozent am höchsten. Dass es an ihrer Schule ein Konzept gebe, wie beispielsweise psychisch belastete Schülerinnen und Schüler "an ein außerschulisches Unterstützungsnetzwerk weitervermittelt" werden könnten, sagten 59 Prozent der Lehrkräfte. Bei Schulen in sozial benachteiligter Lage sei das allerdings mit 53 Prozent seltener der Fall.

Dennoch schätzten 92 Prozent der Lehrkräfte das Wohlbefinden ihrer Schülerinnen als gut ein. Am höchsten war der Wert an Gymnasien mit 98 Prozent, am niedrigsten an beruflichen Schulen (85 Prozent). In Klassen, in denen mehr als jeder fünfte Schüler einen Fluchthintergrund habe, liege der Wert bei 84 Prozent.

Auch das Wohlbefinden der Lehrkräfte variiert den Studienergebnissen zufolge stark. 36 Prozent gaben demnach an, sich entweder täglich oder mehrmals die Woche emotional erschöpft zu fühlen. Das betreffe insbesondere jüngere und weibliche Lehrkräfte sowie Lehrkräfte an Grundschulen. Dennoch gaben 75 Prozent der Befragten an, mit dem Lehrerberuf zufrieden zu sein. 27 Prozent sagten, sie würden den Schuldienst verlassen, wenn sie eine Möglichkeit dazu hätten.

Studienautoren fordern weniger Selektion im Schulsystem

Basierend auf den Ergebnissen der Studie sprachen deren Autorinnen und Autoren auch Handlungsempfehlungen an die deutsche Schulpolitik aus. "Das deutsche Schulsystem ist wie kaum ein anderes im internationalen Vergleich auf Selektion, Homogenität und Wettbewerb ausgelegt", schlussfolgern sie. "Die Lösung kann in einer superdiversen Gesellschaft nicht sein, Schüler:innen noch mehr zu selektieren." Der Veränderungsdruck werde umso größer, "je länger man darauf beharrt, das alte System aufrechtzuerhalten".

Lehrerinnen und Lehrer müssten mehr und besser für den Umgang mit heterogenen Klassen qualifiziert werden. Je besser ihre Weiterbildung in diesem Bereich sei, desto positiver würden sie eine inklusive Beschulung bewerten. "Die besten Schulen, national wie international, haben Heterogenität und Inklusion längst als Chance begriffen und Strukturen entwickelt, in denen alle Schüler:innen individuell gefördert und gestärkt werden."

Konkret regten die Studienautoren an, vor allem an Grundschulen für ausreichend Personal und Ausstattung zu sorgen. Das Ziel müsse darin bestehen, dass jedes Kind nach der Grundschulzeit "die Regelstandards für die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen" erreichen könne. Dafür plädierten die Verfasser dafür, die häufig starren Vorgaben dazu, wie lange ein Kind an der Grundschule unterrichtet werde, aufzuweichen: "Um diese Vision zu erreichen, brauchen wir (…) mehr Flexibilität in Bezug auf die Verweildauer an Grundschulen."