Bildungsbericht Ruhr - Mehr Kinder an Förderschulen als vor der UN-BRK
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Erstmalig konnten für den Bildungsbericht Ruhr 2024 Daten der landesweiten Vergleichsarbeiten in Klasse 3 und 8 (2022/23) für die Kreise und kreisfreien Städte der Metropole Ruhr ausgewertet werden. Danach schneiden die Schulen im Ruhrgebiet bei der Vermittlung der notwendigen Basiskompetenzen erheblich schlechter ab als Schulen in anderen Landesteilen.
Das Ruhrgebiet im Vergleich
Im Vergleich zum Landesdurchschnitt und zu anderen Regionen in NRW ist der Anteil der Dritt- und Achtklässler:innen, die nicht über die Mindestanforderungen in Deutsch und Mathematik verfügen, im Ruhrgebiet deutlich größer. Dabei gibt es auch innerhalb der Metropole Ruhr erhebliche Unterschiede in den erreichten Kompetenzen zwischen den Kreisen und den Großstädten des Kernruhrgebiets.
Im Vergleich zu anderen Regionen von NRW leben im Ruhrgebiet überproportional viele Kinder und Jugendliche mit sozialen Belastungen durch Armut, Migrations- und Fluchthintergrund. 34,3 % der Grundschulen und 36,8 % der weiterführenden Schulen stehen vor großen sozialen Herausforderungen. Insgesamt resümiert der Bildungsbericht, dass „die Vermittlung von Basiskompetenzen an Schulen in benachteiligten Lagen deutlich schlechter als an Schulen in bessergestellten Gebieten gelingt“.
Grundschulen unter besonders starkem Druck
Von 2018 bis 2022 ist die Anzahl der Grundschüler:innen um fast 10 % gestiegen. Auch der Anteil der nicht deutschen Schüler:innen hat sich in diesem Zeitraum erhöht und liegt mit ca. 22 % weit über den Werten im Rheinland und in Westfalen. Wegen der Raumnot überschreitet fast die Hälfte der Grundschulen den Klassenfrequenzrichtwert von 25 Schüler:innen deutlich. Der Lehrkräftemangel verstärkt den Druck.
Die besonders prekäre schulische Situation von einem Drittel der Grundschulen spiegelt sich in dem Kompetenzmangel der Schüler:innen wider: „Etwa jedes dritte Grundschulkind erreicht ein Jahr vor dem Wechsel in die weiterführende Schule nicht die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik.“ In den Großstädten des Kernruhrgebiets verlässt die Hälfte der Kinder die Grundschule ohne ausreichende Basiskompetenzen.
Stabilisierung und Expansion des Förderschulsystems
Die schulischen Problemlagen drücken sich auch in einem drastischen Anstieg des sonderpädagogischen Förderbedarfs aus. Von 2015 bis 2022 ist die Zahl der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den allgemeinbildenden Schulen im Ruhrgebiet um 24 % angestiegen. Die sonderpädagogische Förderquote liegt bei 9,4 %, in NRW bei 7,8 %.
Mit Verweis auf das „Gemeinsame Gutachten zum wissenschaftlichen Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schüler:innen mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung“ stellt auch der Bericht verklausuliert fest, dass sich die Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht nur an den Kompetenzen der Kinder orientieren. Sie werden auch beeinflusst von „schulsystemimmanenten und kommunalen schulpolitischen Entscheidungen“. Im Klartext heißt das: Die Probleme der Schulen werden zu Problemen der Kinder gemacht.
Der Bericht stellt fest, dass die Förderquote des Förderschwerpunktes „Geistige Entwicklung“ seit 2015 von 1,07 % auf 1,3 % angestiegen ist. Er hebt hervor, dass der deutliche Anstieg im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen ausschließlich auf die wachsende Zahl der Kinder mit sonderpädagogisch diagnostizierter „Lernbehinderung“ zurückzuführen ist, die heute offiziell als „Förderschwerpunkt Lernen“ bezeichnet wird. Der Anteil der „Lernbehinderten“ an den Schüler: innen der allgemeinbildenden Schulen im Ruhrgebiet beträgt inzwischen 4,39 %. Davon sind besonders Kinder ohne deutsche Staatsbürgerschaft betroffen. Dagegen bleibt der Anteil der Kinder im „Förderschwerpunkt Sprache“ auf gleichem Niveau (1,24 %) und ist im „Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung“ (1,59 %) sogar rückläufig.
Die wachsende Zahl von „Lernbehinderten“ in der Metropole Ruhr hat sowohl zur Vermehrung der Inklusionsanteile in den allgemeinen Schulen als auch zur Stabilisierung und Expansion des Förderschulsystems geführt. Der Bericht stellt heraus, dass aktuell mehr Kinder in den Förderschulen lernen als vor Beginn der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK).
Schulformentwicklung in der Sekundarstufe
Die im letzten Bildungsbericht 2020 beobachteten Entwicklungen setzen sich weiter fort. Die Hauptschule schrumpft, behält aber ihre Bedeutung als „Sammelbecken“ für abgeschobene Schüler:innen vor allem aus den gegliederten Schulformen, für Kinder und Jugendliche in Armutslagen und zunehmend auch für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Im Verlauf von Klasse 5 bis 10 verzeichnet die Hauptschule einen Schüler:innenzuwachs von 84,4 %. Die Zahl der Hauptschüler:innen ohne Abschluss steigt. Der Hauptschulabschluss wird meist am Berufskolleg – nach der Hauptschule – erworben.
Auch die Realschule wird zurückgebaut und verliert an Bedeutung bei der Vergabe der Mittleren Reife (FOR) und FOR-Q, die als typische Realschulabschlüsse gelten. Die Sekundarschule hat sich auf niedrigem Niveau konsolidiert. Die Zahl der Gymnasien ist konstant, während die Zahl der integrierten Gesamtschulen sich um weitere acht Standorte erhöht hat.
Enttäuschende Handlungsempfehlungen
Besonders alarmierend sind die Ergebnisse der Achtklässler:innen in den Vergleichsarbeiten: „In allen Schulformen, allen Fächern und Kompetenzbereichen bleibt das Ruhrgebiet z.T. deutlich hinter den anderen Landesteilen zurück.“
Die Handlungsempfehlungen sind angesichts dieser Ergebnisse durchaus enttäuschend. Die Sicherung von Basiskompetenzen für alle Schüler:innen als strategisches Ziel auszugeben, versteht sich von selbst. Konkret wird dafür lediglich die konsequente Steuerung der Bildungsfinanzierung nach Sozialindex gefordert. Die Offene Ganztagsschule in der Primarstufe als alleiniges zentrales Handlungsfeld zu benennen, wird dem strategischen Ziel nicht gerecht. Schließlich sind auch integrierte Schulen besonders herausgefordert, weil sie der Träger der Integration und Inklusion in der Sekundarstufe sind.
Komplett ausgeblendet wird die gravierende Fehlsteuerung von Ressourcen in Strukturen mit negativen individuellen und gesellschaftlichen Effekten. Das betrifft zum einen den konventionswidrigen Erhalt und Ausbau der lernineffizienten und kostenträchtigen Förderschulen, zum anderen das Festhalten an der segregierten Hauptschule.
Förderschulen abbauen!
Die Empfehlungen gehen über den Skandal hinweg, dass immer mehr Kinder, die früher noch eine Hauptschulempfehlung bekamen, durch fragwürdige sonderpädagogische Gutachten willkürlich als „lernbehindert“ abgestempelt werden. Damit haben sie noch schlechtere berufliche Ausbildungschancen als vergleichbare Schüler:innen der Hauptschule, wie wissenschaftliche Studien belegen.
Meiner Meinung nach fehlt die klare Ansage, dass die Sonderpädagog:innen der Förderschulen für Lern- und Entwicklungsprobleme dringend für den inklusiven Unterricht und die pädagogische Förderung der Kinder in den Grundschulen gebraucht werden und eingesetzt werden müssen. Nicht gebraucht werden sie indessen für die Etikettierung von Kindern als „lernbehindert“ zum Erhalt der Förderschulen.
Es fehlt außerdem die Forderung nach einem Aktionsplan des Landes zum Abbau aller Förderschulen und zur inklusiven Schulentwicklung im Sinne der UN-BRK.
Hauptschulen abschaffen!
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 19. November 2021 das Recht auf schulische Bildung als eigenständiges Recht des Kindes und Jugendlichen anerkannt und normiert. Das Recht auf schulische Bildung „vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten“. Für mich ist klar: In ihrer derzeitigen Konstruktion und Funktion gewährleistet die Hauptschule das Recht auf schulische Bildung nicht.
Deshalb müssten die Empfehlungen sich die Forderung nach Abschaffung der Hauptschule als eigenständige Schulform zu eigen machen und dies mit der Forderung verbinden, dass auch die Gymnasien zur Beteiligung an den gesellschaftlichen Aufgaben der Integration und Inklusion verpflichtet werden. Das Land müsste die notwendigen schulrechtlichen und pädagogischen Rahmenbedingungen für eine „Kultur des Behaltens“ herstellen, die Abschiebungen von Schüler:innen des Gymnasiums zu anderen Schulformen verzichtbar macht. Das 17. Schulrechtsänderungsgesetz, das demnächst im Landtag verabschiedet werden soll, schafft die Bedingungen dafür nicht.
Statt Flickschusterei – die Schule für alle!
Der australische Bildungsforscher John Hattie hat in seiner international bekannten Metastudie „Visible Learning“ die Einflussfaktoren für schulischen Lernerfolg untersucht. Gerne wird der Forscher hierzulande kontextlos mit der Aussage zitiert, dass es auf den Lehrer ankomme. Mit diesem Argument wurden dann bildungspolitische Forderungen nach einer Schulstrukturreform zurückgewiesen.
In seinem aktuellen Spiegelinterview vom 26.12.2024 kritisiert er das deutsche Schulsystem scharf als das schlechteste und ungerechteste, das er kenne, weil es Bildungschancen zu früh nach Leistung und gleichzeitig nach Herkunft verteile. Es belaste Kinder und Jugendliche, gebe ihnen keine Zeit zur Entwicklung und vergeude Talente. Zudem gefährde es den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Ich wünsche mir, dass die Bildungspolitik im Ruhrgebiet – mit dem Rückenwind von Hattie – mutige strukturelle Schlussfolgerungen aus dem Bildungsbericht zieht. Eine Konsequenz könnte z.B. sein, die transformatorische Bedeutung der PRIMUS-Schule anzuerkennen, die bislang noch keine Rolle im Ruhrgebiet spielt. Als Langformschule von Klasse 1 bis 10 überwinden die PRIMUS-Schulen nämlich die viel zu frühe und oft ungerechte Aufteilung von Kindern.
Autor: Dr. Brigitte Schumann / kro - © EU-Schwerbehinderung
(Erstveröffentlichung im Bildungsklick)