2009 hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-BRK dazu verpflichtet, ein inklusives Schulsystem aufzubauen. Trotzdem ist Inklusive Bildung noch lange keine Realität in Deutschland. Hier berichten wir anhand einer Auswahl kommentierter Medienbeiträge jeden Monat, was in Deutschland zum Thema inklusive Bildung passiert.
/// Seit wann benutzt die Sonderpädagogik für Ihre Einschätzungen der Bedarfe (möglicherweise) behinderter Kinder eigentlich das Wort Diagnostik?
Der Begriff hört sich fachlich an und suggeriert wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Und er ist spätestens im Lichte der Prüfstudie über die Feststellungen sonderpädagogischer Förderbedarfe in Nordrhein-Westfalen als Teil des Problems unübersehbar.
Seit Jahren gibt es Zweifel, ob nicht viel zu viele Kinder den schulrechtlichen Stempel einer Behinderung bekommen, weil schlecht ausgestattete Schulen auf der Suche nach Verstärkung Schulschwierigkeiten jeglicher Art durchs Nadelöhr der Sonderpädagogik ziehen. Aber wer wollte sich schon anmaßen, die Ergebnisse sonderpädagogischer Einschätzung anzuzweifeln, die sich mit der Bezeichnung „Diagnostik“ in so ein eindrucksvolles wissenschaftliches Mäntelchen gehüllt hat?
Im Schulalltag setzte sich die Haltung durch: Wird schon stimmen, dass das Kind aus der Armutsfamilie eine Lernbehinderung hat, das Kind aus dem konfliktbehafteten Brennpunkt der Stadt eine emotionale Behinderung oder das zugewanderte Kind eine Sprachbehinderung. Schließlich ist da eine sonderpädagogische „Diagnostik“ gemacht worden.
Aber halt: Eine Diagnostik, die ihren Namen wert ist, sollte einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Ob eine (sonder)pädagogische Beobachtung – so wertvoll sie ist – diesem strengen Kriterium überhaupt genügen kann, selbst wenn sie durch Leistungs- und Intelligenztests ergänzt wird, wäre zu diskutieren. Wer aber die Ergebnisse des Prüfauftrags über die Praxis der sonderpädagogischen Feststellungsverfahren in Nordrhein-Westfalen aufmerksam liest, wird nicht einmal ein geordnetes Verfahren finden. Die Forscher fanden unter anderem heraus, dass
nahezu jeder Antrag auf Überprüfung eines möglichen sonderpädagogischen Förderbedarfs mit der Feststellung desselben endet,
keinerlei landesweite Regelungen festlegen, ob zum Beispiel Intelligenztests für die Feststellung der Förderschwerpunkte Lernen und Geistige Entwicklung vorgeschrieben sind, geschweige denn welche Testverfahren akzeptiert werden und ob die Gutachter in der Anwendung der ausgewählten Tests geschult sind,
überdurchschnittlich viele Kinder aus der migrantischen Community als sonderpädagogisch förderbedürftig beurteilt werden,
Kindern ein Förderschwerpunkt zuerkannt wurde, obwohl die dafür vorgesehenen Testungen nicht durchgeführt werden konnten,
die im Verfahren verlangte Darstellung der Schule, welche Fördermaßnahmen für das Kind sie durchgeführt hat, bevor es zur Antragstellung kam, oftmals gar nicht ausgefüllt ist usw.
Für die Frage, wie viele dieser Einstufungen in sonderpädagogische Förderbedürftigkeit schlicht falsch sind, lässt das Schlimmes ahnen. Die Zahl der Schülerinnen* mit sonderpädagogischem Förderbedarf in NRW ist seit den 10er Jahren von rund 120.000 auf rund 150.000 gestiegen. Für die Politik heißt das: Mit kosmetischen Reformen im Verfahren ist hier nichts mehr zu retten.
Medienschau Mai
Umfrage
///Besucht Ihr Kind eine Förderschule in NRW? Oder kennen Sie Eltern, deren Kind eine Förderschule in NRW besucht? Noch bis zum 7. Juni: Wie zufrieden sind Eltern mit der Förderschule? Und warum haben sie ihr Kind dort angemeldet? Erstmals werden die Förderschul-Eltern dazu selbst gefragt, in einer gemeinsam aufgelegten Umfrage des mittendrin e.V. und der Landeselternschaft der Förderschulen GE KME in Nordrhein-Westfalen.
///Über all die schlechten Nachrichten über inklusive Bildung haben Viele völlig aus dem Blick verloren, wie gut inklusive Bildung an vielen Schulen längst gelingt, zum Beispiel in Köln. Eine Veranstaltung in Köln zeigt diese Woche Mittwoch, was möglich ist und fragt, wie diese Qualität inklusiver Bildung in die Fläche kommen kann.
mittendrin e.V.
Köln kann inklusive Bildung! Veranstaltung mit Diskussion
///Die ehemalige SPD-Politikerin und Lebenshilfe-Vorsitzende Ulla Schmidt ist überzeugt, dass wir mit dem Ziel eines inklusiven Arbeitsmarktes nicht weiterkommen werden, wenn wir die inklusive Schulbildung nicht verwirklichen. Beschämend für ein so reiches Land, meint sie. Und zeigt sich im bildungsklick-TV enttäuscht darüber, dass Bund und Länder so wenig für die inklusive Bildung eintreten und werben:
bildungsklick - TV
Gespräch mit der ehemaligen SPD-Politikerin und Lebenshilfe-Vorsitzende Ulla Schmidt
///Der CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe kritisiert, dass heute mehr Menschen mit Behinderung in Sonderschulen und Werkstätten betreut werden als vor Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention. Er benennt die Verantwortlichen und das sind ganz schön viele:
Table Media
CDU-Politiker Hüppe zur Inklusion: „Wir erleben ein Rollback“
///Die Bertelsmann-Stiftung hat ihre Zahlen zu Entwicklung der inklusiven Bildung auf den neuesten Stand gebracht. Fazit: Mit der Inklusion geht es kaum voran. Schlusslichter unter den Bundesländern sind mit völliger Stagnation Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz:
Bertelsmann Stiftung
Auf dem Weg zum inklusiven Schulsystem? Aktuelle Zahlen zur Inklusion an Schulen
///Der Schulausschuss des NRW-Landtags informiert sich über eine wissenschaftliche Überprüfung der sonderpädagogischen Verfahren im Land. Die Wissenschaftlerinnen* sind in ihrer Prüfung im Auftrag des Schulministeriums (siehe den Inklusionspegel vom April) auf erschreckende Zustände gestoßen. Hinter der stetig steigenden Zahl von Schülerinnen*, denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrieben wird, verbirgt sich ein bildungspolitischer Skandal erheblichen Ausmaßes:
bildungsklick
Wie viele Schulkinder in NRW werden fälschlich diagnostiziert?
///Das Portal Table Media hat in den NRW-Gutachten nach Informationen gesucht, welche Schülerinnen* besonders schnell als förderbedürftig gestempelt werden. Es sind, und das ist keine Überraschung, Kinder aus Armutsverhältnissen und aus Familien mit Migrationsgeschichte. Anstatt diese im Sinne der Bildungsgerechtigkeit besonders gut zu fördern, werden sie pathologisiert und werden ihre Bildungsziele reduziert.
Table Media
Sonderpädagogischer Förderbedarf: Welchen Schülern er häufiger attestiert wird
///Der Kölner Stadt-Anzeiger liest die Gutachten über die zweifelhafte Praxis der Feststellungsverfahren mit dem Blick auf die Zustände in der Domstadt: Sind deshalb die Kölner Förderschulen so voll und die Inklusionsplätze so knapp?
Kölner Stadt-Anzeiger (Paywall)
Jedes neunte Kölner Kind hat sonderpädagogischen Förderbedarf
///Die NRW-Gutachter haben Empfehlungen formuliert, wie die Welle der zweifelhaften sonderpädagogischen Diagnosen eingedämmt werden könnte. Als wichtigen Punkt fordern sie mehr Prävention für Schülerinnen* mit Schwierigkeiten. Die Bildungsjournalistin Brigitte Schumann befürchtet, dass sich am Ende unter dem Label Prävention statt guter schulischer Förderung nur flächendeckende Leistungs-Testungen durchsetzen werden.
///Rollback in Sachsen-Anhalt: Das Schulministerium verfügt, dass Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ von den Eltern auch sofort an einer Förderschule angemeldet werden können. Bisher war im Sinne einer inklusiven Entwicklung zunächst die Regelschule als Förderort festgelegt. Angekündigt wird, die Eltern dabei „intensiv“ zu beraten. Wir wissen aus Erfahrung, was das heißt.
News4Teachers
Von wegen Inklusion: Bundesland „erlaubt“ Eltern, gleich die Förderschule zu wählen
///Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat das „größte und umfassendste Bildungspaket“ für sein Land vorgestellt. Die Inklusion hat er dabei abermals vergessen. „Zweierlei Maß können wir“, kommentiert der Elternverband Gemeinsam leben – gemeinsam lernen:
///Die Bremer Schulverwaltung richtet an den Förderzentren ein Schulangebot für Kinder mit großen Verhaltensproblemen und Schulvermeidungsverhalten ein. Sie sollen die bisherige Förderschule ersetzen und die Rückkehr der Schülerinnen* an die Regelschulen fördern. Ob das auf diesem Weg gelingt, wird zu beobachten sein.
///Das Land Berlin legt den Entwurf eines neuen Schulgesetzes vor. Eltern kritisieren, dass abermals versäumt wird, die schulische Inklusion gesetzlich zu verankern. Die Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte sieht das ähnlich:
Deutsches Institut für Menschenrechte
Stellungnahme zum Entwurf des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes (SchulG) und weiterer Rechtsvorschriften des Senats von Berlin vom 28.05.2024
///Die Linke im Hamburger Senat wollte wissen, wie Schülerinnen* mit Förderbedarf auf die Hamburger Schulen verteilt sind. Ergebnis der Anfrage: Die Hamburger Gymnasien halten sich weitestgehend raus bei der Inklusion. Hamburger Abiturientinnen* werden also weiterhin über keinerlei inklusive Kompetenz verfügen.
Hamburger Abendblatt (Paywall)
So ungleich sind Kinder mit Förderbedarf an Schulen verteilt
///Viele Kommunen fühlen sich für den Aufbau der inklusiven Schulbildung hartnäckig nicht zuständig. Sie handeln damit rechtswidrig, schließt das Deutsche Institut für Menschenrechte in einem Rechtsgutachten und legt dar, welchen Verpflichtungen die Städte und Gemeinden für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention unterliegen. Eine zusätzliche Studie untersucht, was die Kommunen bisher dafür getan haben:
Deutsches Institut für Menschenrechte
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in deutschen Kommunen
///Nein, es ist Schülerinnen* mit Behinderung nicht zumutbar, sich von den Eltern an der Schule vorfahren zu lassen, während Gleichaltrige auf dem Schulweg ihre Selbständigkeit trainieren. Eine Entscheidung des Bundessozialgerichts verpflichtet den Träger der Eingliederungshilfe, Schülerinnen* mit Behinderung in die inklusive Schule eine Beförderung zu finanzieren – wenn die Kommune es versäumt hat, einen Schulbus bereitzustellen. Dieser Richterspruch ist bahnbrechend für Inklusion – wird aber von uns Eltern leider zunächst mit weiteren Urteilen durchzusetzen sein. Ihr wollt die Schülerbeförderung zur inklusiven Schule einklagen? Meldet Euch für weitere Information gern bei der EUTB-Beratungsstelle des mittendrin e.V. in Köln!
mittendrin e.V.
Behinderungsbedingte Fahrtkosten für den Schulweg müssen von der Eingliederungshilfe bezahlt werden - Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts
///Er greift um sich: der Trend, Schülerinnen* mit Behinderung vom Unterricht auszuschließen. Ein Berliner Gericht hat nun geurteilt, dass Schulen dabei sehr enge Grenzen gesetzt sind:
///Die Sendereihe „Selbstbestimmt“ des TV-Senders mdr zeigt zum Europäischen Protesttag der Menschen mit Behinderung einen Beitrag über Inklusion in der Bildung. Sie zeigt eine Bremer Oberschule, in der viel für die Einbindung von Schülerinnen* mit Behinderung getan wird – und einen Fall aus Sachsen, in dem die Regelschule eben nicht so viel für die Einbindung der Schülerin getan und sie zur Förderschule wegkomplimentiert hat. Ob das nur Einzelfälle sind oder ob dahinter eine unterschiedliche Schulpolitik der Länder Bremen und Sachsen bezüglich der inklusiven Bildung steht, müssen die Zuschauerinnen* selbst herausfinden.
///Das Magazin focus hat über inklusive Bildung berichtet und wundert sich, dass darauf so viele Leserinnen*zuschriften von Familien behinderter Kinder kamen. Worauf es bei der Inklusion ankommt, zeigt die Zeitschrift in einer weiteren Geschichte:
FOCUS online
Kita schmeißt behinderten Linus raus: Fall Max zeigt, wie es besser geht