2009 hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-BRK dazu verpflichtet, ein inklusives Schulsystem aufzubauen. Trotzdem ist Inklusive Bildung noch lange keine Realität in Deutschland. Hier berichten wir anhand einer Auswahl kommentierter Medienbeiträge jeden Monat, was in Deutschland zum Thema inklusive Bildung passiert.
/// Dass zu vielen Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrieben wird, ist keine neue Erkenntnis. Schon 2013 und damit ein Jahrzehnt bevor das NRW-Schulministerium eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben hat, monierte der NRW-Landesrechnungshof, wie die Verfahren durchgeführt wurden und die Förderquote unter den Schülerinnen* in die Höhe trieben.
Bisher haben sich die Regierungen in NRW ebenso wie in den anderen Bundesländern entschieden, nichts zu tun.
Das Nichtstun hat Folgen. 2013 schätzte der Landesrechnungshof, dass den Schulen rechnerisch 300 komplette Sonderpädagoginnen*stellen verlorengingen, weil Sonderpädagoginnen* mit der Erstellung der vielen Gutachten beschäftigt waren, anstatt zu unterrichten. Weil die Zahl der Schülerinnen* mit Förderbedarf seitdem stetig weitergewachsen ist, dürften heute mindestens 350 Stellen dafür verwendet werden, die Gutachten zu schreiben.
Und es gibt weitere Folgen: Für die inzwischen fast 160.000 Schülerinnen* mit Förderbedarf werden natürlich in den Schulen auch mehr Sonderpädagoginnen* gebraucht: ganze 30 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. So viele zusätzliche Stellen im Landeshaushalt kann man gar nicht schaffen, geschweige denn besetzen.
Der aktuelle Mangel an Sonderpädagoginnen* wird demnach wesentlich durch die immer häufigere Vergabe des Förderstatus‘ mit verursacht. Diese knappe Personalressource wird wesentlich für Schülerinnen* mit bescheinigtem Förderbedarf eingesetzt, die keine Behinderung haben, sondern in schwierigen Verhältnissen leben. Ihnen wäre mit individueller Förderung durch die Klassenlehrerin*, Unterstützung durch Sozialpädagoginnen*, Sprachförderung und einer guten Jugendarbeit erheblich besser geholfen. Genau das empfiehlt die von der Bildungsministerin NRWs in Auftrag gegebene wissenschaftliche Studie zu den AO-SF Verfahren, die im Mai 2024 veröffentlicht wurde.
Bei den Schülerinnen* mit Behinderung dagegen kommt immer weniger sonderpädagogische Förderung an. Sie wird zunehmend fachfremden Kräften in den sogenannten MPT-Teams („multiprofessionelle Teams“) überlassen oder fällt ganz aus.
Politikerinnen*, die sich nicht an eine strengere Regelung der sonderpädagogischen Verfahren herantrauen, sollten hier hinschauen: Das alles wird nicht besser. Das wird jedes Jahr schlimmer.
Medienschau August
Staatenprüfung
///Vor ziemlich genau einem Jahr war Deutschland vom UN-Fachausschuss zur Staatenprüfung nach Genf eingeladen. Vor Ort trafen die Regierungsvertreterinnen* auf ungebetene Reisebegleitung: Eltern waren ebenfalls nach Genf gefahren und ein Protestcamp vorbereitet, um auf die Verweigerung der inklusiven Bildung aufmerksam zu machen. Kobinet erinnert an die Staatenprüfung und liefert zum Nachlesen auch das Protokoll der Diskussion mit dem Fachausschuss:
Kobinet Nachrichten
Staatenprüfung Deutschlands zur Behindertenrechtskonvention vor einem Jahr
///Aus Anlass der Staatenprüfung entstand dieser Erfahrungsbericht zum Zustand des Rechts auf inklusive Bildung. Haben wir damals übersehen. Passt heute noch genauso gut:
NEWS4TEACHERS
Inklusion – gescheitert? „Zu wenige Lehrer, zu wenige Räume, zu wenige Schulbegleiter, viel Gegenwind“: Eine Mutter berichtet
///Was hat die aktuelle Schulkrise mit dem verbreiteten Widerwillen im System gegen Inklusion zu tun? Und was könnte getan werden, damit Schulen ihrer superdiversen Schülerinnen*schaft erfolgreich Bildung vermitteln? Ein langer spannender Podcast, in dem Hörerinnen* einem Soziologen beim Denken über Inklusion lauschen können.
///Anke Langner hat die Universitätsschule Dresden gegründet, weil sie eine inklusive Schule gestalten und Schule von den Schülerinnen* her denken will. Dass man dafür eine neue Schule gründen muss, sollte immer wieder nachdenklich machen…
///Anhand der aktuellen Landtagswahlen wird diskutiert, was extreme Parteien anrichten können, wenn sie auf Länderebene in Regierungsverantwortung kommen. Die taz hat zusammengestellt: sie könnten z.B. in den Schulen ziemlich viel anrichten, weil es für wesentliche Änderungen in der Schulbildung nicht einmal Parlamentsbeschlüsse braucht.
taz
Bildungsvorhaben der AfD im Osten - Mehrere Rollen rückwärts
///Im Land ist die Zahl der Kinder mit Förderbedarf im vergangenen Schuljahr weiter angestiegen. Wie aus Zahlen der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervorgeht, fielen knapp 12.400 Schülerinnen* darunter. Vor zehn Jahren waren es etwas mehr als 10.600 Kinder und Jugendliche. Der Anteil an Förderschülerinnen* ist mit 6,4 Prozent im Bundesvergleich besonders hoch. Landtagsabgeordnete fordern, dass mehr für Inklusion getan werden muss.
///Die Bezirksregierung Arnsberg in NRW hat eine Kommunalaufsichtsbeschwerde gegen den Kreis Unna wegen des Baus zusätzlicher Förderschulen zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerinnen* hatten argumentiert, dass der Kreis den angegebenen Bedarf an mehr Förderschul-Plätzen erst erzeugt habe, durch eigene Versäumnisse in der schulgesetzlich geforderten Entwicklung einer inklusiven Schullandschaft. Die Bezirksregierung aber findet offensichtlich den Vorrang der inklusiven Bildung im Schulgesetz nicht so wichtig.
Ruhr Nachrichten
Aufsichtsbeschwerde gescheitert Kreis Unna muss Millionen-Investition in Schulen nicht stoppen (Paywall)
///Das NRW-Schulministerium hat wissenschaftlich prüfen lassen, ob bei der Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe alles mit rechten Dingen zugeht. Anlass war, dass immer mehr Kindern eine schulrechtliche Behinderung zugeschrieben wird. Seit dem Frühjahr ist das Ergebnis öffentlich, der Befund ist desaströs. Schulministerin Dorothee Feller hat angekündigt, das Verfahren zu reformieren. Wird sie sich trauen? Die Bildungsjournalistin Brigitte Schumann findet, dass es auffällig ruhig um das Thema ist.
bildungsklick
NRW: Politisches Schweigen zu falschen sonderpädagogischen Diagnosen
///Eine evangelische Schule in Schmalkalden setzt einen Schüler mit Trisomie 21 nach vier Jahren einfach vor die Tür. Der Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe fragt, was eigentlich die EKD dazu sagt.
Kobinet Nachrichten
Kritik am Schulausschluss von Kind mit Down Syndrom aus evangelischer Schule
///Der Blog Stadt-Land-Mama thematisiert die Einschulung eines Kindes mit Behinderung in eine inklusive Schule. Ein Bericht von Vorfreude, wie sie zum Schulstart sein sollte.
///Hier berichtet App-Erfinder Scharf über seine Erfahrungen mit inklusiver Bildung und warum er meint, dass sie keine Probleme im Schulsystem verursachen muss, sondern im Gegenteil die Lösung sein kann.
Lehrer News
Friedo Scharf im Interview: “Inklusion ist nicht die Ursache der Probleme unseres Schulsystems, kann aber die Lösung unserer gesellschaftlichen Herausforderungen sein.”
///Seit rund 150 Jahren treibt die Idee der Eugenik als Vorhaben einer biologischen Optimierung von menschlichen Gesellschaften ihr Unwesen, bis zur planmäßigen Ermordung vieler Menschen in den „Euthanasie“-Programmen Nazi-Deutschlands. Trotz dieser Folgen sind eugenische Ideen niemals vollständig verschwunden. Aktuell propagiert der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in Sachsen, die Kassen sollten doch allen Frauen mit Kinderwunsch eine komplette Mutationssuche ihres Genoms finanzieren und – bei Befund – anschließend in-vitro-Fertilisationen für eine „sichere“ Familienplanung. Damit könnten ansonsten „erforderliche“ Schwangerschaftsabbrüche vermieden werden. Der Vorschlag macht erst einmal sprachlos. Glücklicherweise hat der Vorsitzende der Bundesvereinigung Mukoviszidose e.V. Worte gefunden.
///Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik und das Bündnis #NoNIPT, in dem auch der mittendrin e.V. aktiv ist, laden zu einer Tagung im November nach Berlin ein.
Seit zwei Jahren übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für den Pränataltest (NIPT) auf die Trisomien 13, 18 und 21. Die Nachfrage nach diesem Test ohne medizinischen Nutzen ist in kurzer Zeit geradezu explodiert. Der NIPT ist auf dem besten Weg, zu einem allgemeinen Screening insbesondere auf das Down-Syndrom zu werden.
Auf der Tagung wird Raum für Diskussion sein: Warum ist es in unserer Gesellschaft zunehmend „normal“ und gilt geradezu als Ausdruck elterlicher Verantwortung, in der Schwangerschaft beim Fötus nach Chromosomenbesonderheiten zu suchen? Welche gesellschaftlichen Strukturen fördern solche Narrative? Was hat dies mit der Tradition eugenischen Denkens zu tun? Mit kapitalistischer Verwertungslogik? Was sind die Konsequenzen dieser Entwicklung? Und: Wie können wir als Vertreter*innen der kritischen Zivilgesellschaft dagegenhalten?
Die Anmeldefrist ist bis Ende September verlängert worden.
NoNIPT
Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik und das Bündnis #NoNIPT laden zur Jahrestagung 2024 ein