2009 hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-BRK dazu verpflichtet, ein inklusives Schulsystem aufzubauen. Trotzdem ist Inklusive Bildung noch lange keine Realität in Deutschland. Hier berichten wir anhand einer Auswahl kommentierter Medienbeiträge jeden Monat, was in Deutschland zum Thema inklusive Bildung passiert.
/// Manchmal juckt es die Eule, sich neben der inklusiven Bildung auch in andere gesellschaftliche Themen einzubringen. Vielleicht wäre die Welt ja hoch interessiert daran, was sie über „Integrierte Steuer-Transfer-Systeme für die Bundesrepublik Deutschland“ denkt, oder über „Klassifikationen und Behandlungsoptionen“ bei Knochenfrakturen. Sie meinen, jetzt überschätzt sich das Federvieh aber? Sie meinen, eine knackige Meinung sollte man lieber für sich behalten, wenn es an dahinter liegendem Fachwissen fehlt? Sagen Sie das Michael Hüther, dem Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW)!
Der äußerte sich im Tagesspiegel und jetzt auf den Seiten seines Instituts – gemeinsam mit dem Ärztlichen Direktor des Unfallkrankhauses Berlin, Axel Ekkernkamp, - gegen die Abschaffung des Förderschulsystems. Dabei werfen sie sich mann*haft dem angeblichen politischen Zeitgeist der Inklusion entgegen. „Die Politik fordert das. Sie will keine Förderschulen mehr“, posaunt gleich der Vorspann des Textes, und schon reibt die kundige Leserin* sich die Augen. Während im wirklichen Leben landauf landab das Förderschulsystem nicht ab-, sondern ausgebaut wird, philosophieren Hüther und Ekkernkamp, „politische Vorgaben“ für Inklusion erlangten „eine Kraft der Selbstverständlichkeit, gegen die kaum anzukommen ist“.
Damit nicht genug, kolportieren die beiden Professoren, dass seitens der so mächtigen Inklusionsbefürworterinnen* „mit historischen Bezügen auf Hitler-Deutschland (Reichsarbeitsdienst, Jugend-KZ) und die DDR (Jugendwerkhöfe, Spezialkinderheime) (…) eine Extremposition bezogen (werde), nach der Förderschulen abgebaut werden müssten“. Einen Satz später schreiben sie, „entsprechend“ hätten sich die Behindertenbeauftragten der Länder geäußert.
Wer den Text bis zum Ende durchhält, wird schließlich noch belehrt, dass „am Ende der förderpädagogischen Begleitung ein regulärer Schulabschluss“ stehen sollte, was die Verfasser im Textzusammenhang ganz offensichtlich nur den Förderschulen zutrauen. Ja, liest denn im Institut der Deutschen Wirtschaft niemand Statistiken, z.B. über die schlechte Bilanz der Förderschulen gerade bei den Schulabschlüssen? Und hat der Direktor des IW keine Direktionsassistenz, die ihn von der Veröffentlichung allzu abenteuerlicher Texte abhält? Und warum sagt den beiden Kaisern keiner, dass sie keine Kleider anhaben?
Medienschau November
Neuwahl 1
///Das plötzliche Ende der Regierungskoalition ist für Menschen mit Behinderung besonders ärgerlich. Bundesgesetzliche Fortschritte für mehr Barrierefreiheit und einen inklusiveren Arbeitsmarkt sind lange versprochen worden, doch nun fallen sie aus:
kobinet-Nachrichten
Ampel zerbricht ohne behindertenpolitische Hausaufgaben gemacht zu haben
///Die Liga Selbstvertretung hat für die kommende Bundestagswahl 10 behindertenpolitische Gebote formuliert. Für die inklusive Bildung fordern die Selbstvertreterinnen* einen Masterplan von Bund und Ländern:
kobinet-Nachrichten
LIGA Selbstvertretung: 10 Gebote für eine zukunftsfähige Behindertenpolitik
///Die Landesregierung hat einen Aktionsplan für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vorgelegt. Die Eltern in Baden-Württemberg ärgern sich: Wieder einmal wird bei der inklusiven Bildung nur Aktivität simuliert. Hier ihre Einschätzung:
LAG Baden-Württemberg
Wie mache ich einen Aktionsplan so, dass alles beim Alten bleibt?
///Die Behindertenbeauftragte des Landes hat zu einer Follow-Up-Veranstaltung der UNO-Staatenprüfung eingeladen. Leider blieb die Tagung weitgehend ohne Ergebnisse:
EU-Schwerbehinderung
15 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention: NRW zieht Bilanz
///Konkrete Forderungen an die Landesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention haben Selbstvertretung und Verbände formuliert, und zwar schon im April des Jahres. Leider haben sie auch nach acht Monaten noch keinerlei Rückmeldung erhalten. Nicht einmal im Inklusionsbeirat des Landes hat das Papier es bis jetzt auf die Tagesordnung geschafft:
LAG Selbsthilfe NRW
Nach der Staatenprüfung Deutschlands: Umsetzung der UN-BRK in NRW jetzt! Gemeinsame Forderungen der Behindertenverbände und -organisationen
///Seit fast zehn Jahren gibt es im Land eine Schulform, die Kindern den üblichen Schulwechsel nach der Grundschule und damit typische Bruchstellen in der Bildungslaufbahn erspart. Die sogenannten Primusschulen sind ein verlässlicher Lernort von der Einschulung bis zum Schulabschluss. Eine Petition setzt sich jetzt dafür ein, dass weitere Primusschulen neu gegründet werden dürfen. Hier kann man unterschreiben:
Eine Schule für alle
Mehr Bildungsgerechtigkeit in NRW: Weitere PRIMUS-Schulen von Kl. 1-10 schulrechtlich ermöglichen!
///Für alle, die mehr über Primusschulen wissen wollen: WDR Markt hat am 6.12.2023 anlässlich des Pisaschocks das Konzept von Primusschulen vorgestellt. Kann man hier noch anschauen. (ab Minute 34:19)
///Das Schulministerium will im kommenden Jahr die Definition sonderpädagogischer Förderschwerpunkte deutlich konkretisieren. Dies soll ein erster Schritt sein, den Wildwuchs bei der Etikettierung von Schülerinnen* einzudämmen:
Landtag NRW
Bericht zum Thema „Aktueller Sachstand Umsetzung der Vorschläge des wissenschaftlichen Konsortiums zur Überarbeitung des AO-SF-Verfahrens"
///Sogenannte „Campus-Lösungen“ im Schulbau sind groß in Mode. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat beschlossen, in Bielefeld 110 Millionen Euro in einen solchen Campus zu investieren. Die Förderschulen für sehbehinderte Schülerinnen* und für körperbehinderte Schülerinnen* sollen dort in einem Neubau zusammengelegt werden. Im gleichen Zuge soll die Zahl der Schulplätze massiv ausgebaut werden. Inzwischen regt sich Protest:
NW Bielefeld
Millionen-Investition für behinderte Menschen in Bielefeld löst hitzige Debatte aus (Paywall)
///Nicht nur die NRW-Landesregierung, auch die Kommunen vernachlässigen den gesetzlichen Auftrag zum Aufbau der inklusiven Bildung. In Köln demonstrieren Eltern schon seiteinemJahren vor (fast) jeder Sitzung des Schulausschusses gegen weite Schulwege und fehlende Schülerinnen*beförderung. Immer öfter schließen sich Schulen dem Protest gegen schlechte Bedingungen in der Inklusion an. Im November schließlich protestierten mehrere hundert Menschen vor dem Rathaus.
///In Nordrhein-Westfalen können Kinder mit Behinderung zum Teil nicht in die KiTa gehen. Aktueller Grund dafür ist, dass der Landschaftsverband Rheinland neuerdings deutlich restriktiver mit Anträgen auf KiTa-Assistenzen umgeht. Sie wurden u.a. grundsätzlich nicht mehr zum KiTa-Start genehmigt, die Antragsbearbeitung dauert viele Monate und es werden weniger Betreuungsstunden bewilligt. Der Hintergrund: Der LVR möchte nicht mehr mit seiner Eingliederungshilfe ausgleichen, was Andere bei der inklusiven Entwicklung der Kindertagesstätten versäumt haben. Denn wenn KiTas inklusiver arbeiten würden, so die Argumentation, bräuchte es weniger Einzelfallhelferinnen*. Doch ausgetragen wird der Konflikt nun auf dem Rücken der betroffenen Familien. Die Eltern beginnen sich zu organisieren.
Aachener Zeitung
Leistungskürzungen für Kinder mit Behinderung schlagen Wellen (Paywall)
///Selbst in Schleswig-Holstein greifen Pläne um sich, statt der Inklusion die Förderschulen auszubauen. Um nicht allzu inklusionsfeindlich zu erscheinen, wird die geplante Vergrößerung einer Förderschule Geistige Entwicklung um die Idee einer benachbarten inklusiven Grundschule ergänzt. Campus, Sie wissen schon. Die „Initiative Inklusion“ protestiert:
HL -live
Initiative Inklusion zur Schulentwicklungs-Planung
///Das Bildungsministerium verlängert die Frist bis zur Abschaffung der Förderschule Lernen ins Jahr 2030. Geplant sind jetzt auch getrennte sonderpädagogische Lerngruppen an allgemeinen Schulen. Inklusive Bildung ist das nicht.
///Der Aktivist Raùl Krauthausen kritisiert den Stillstand bei der schulischen Inklusion. Exklusion passiere nicht zufällig, sie werde im Gegenteil aktiv vorangetrieben.
Krautreporter
So blockieren Eltern und Lehrkräfte die Inklusion behinderter Kinder
///Zwei Professoren der Wirtschaftswissenschaft und der Chirurgie schreiben einen Text zur Verteidigung des Förderschulsystems. Hätten sie besser bleiben lassen:
Institut der Deutschen Wirtschaft
Inklusion an Schulen: Lasst den Eltern das Wahlrecht!
///Bis zum 31. Dezember können sich in Hessen Schulen, KiTas und Vereine für den Hessischen Inklusionspreis bewerben. Er wird von der Gruppe Inklusions-Beobachtung (GIB) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen vergeben.
///In Frankfurt hat im September die Abschlusstagung der Förderrichtlinie „Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung stattgefunden. Hier ist ein Bericht über die Diskussionen:
Goethe-Universität Frankfurt
Inklusive Bildung: Bedingungen für gelungenen Transfer
///Noch bei der Staatenprüfung zur UN-Behindertenrechtskonvention hat der UN-Fachausschuss Deutschland aufgefordert, die medizinischen Zwangsbehandlungen von entmündigten Personen in Kliniken zu beenden. Jetzt hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit von Zwangsbehandlungen sogar noch ausgeweitet. Sie sollen jetzt auch ambulant möglich sein, also etwa in Wohneinrichtungen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte befürchtet, dass dadurch die Schwelle sinkt, Menschen gegen ihren Willen zu medikamentieren. Um das zu verhindern, muss der Bundestag endlich neue gesetzliche Regelungen schaffen.
Bundesverfassungsgericht
Krankenhausvorbehalt bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen teilweise verfassungswidrig
///Beim Aus der Ampelkoalition ist auch die Abstimmung über den interfraktionellen Antrag eines Monitorings der Folgen der Kassenfinanzierung des Bluttests auf Trisomien (NIPT) unter die Räder gekommen. Die Abstimmung war für den 8. November geplant – Abgeordnete, die den Antrag eingebracht hatten, rechneten mit einer breiten Mehrheit:
Ärzteblatt
Bundestag streicht Antrag zum Bluttest für Schwangere