2009 hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-BRK dazu verpflichtet, ein inklusives Schulsystem aufzubauen. Trotzdem ist Inklusive Bildung noch lange keine Realität in Deutschland. Hier berichten wir anhand einer Auswahl kommentierter Medienbeiträge jeden Monat, was in Deutschland zum Thema inklusive Bildung passiert.
/// Herzlich willkommen zurück, liebe Lehrerinnen*! Wir haben Euch wirklich vermisst. In den vergangenen Jahren war es aus Eurer Richtung so still geworden zum Thema inklusive Bildung. Und jetzt das: Innerhalb eines Monats fordern sowohl die Bildungsgewerkschaft GEW als auch der Verband Bildung und Erziehung einen neuen „Aufbruch“, um endlich die inklusive Bildung voranzubringen!
„Wir brauchen einen Aufbruch in der Schulpolitik. Wir wollen die ‚Eine Schule für alle Kinder‘ in einem inklusiven Schulsystem, das alle bestmöglich unterstützt und fördert, niemanden zurücklässt“, sagt die GEW-Vorsitzende Maike Finnern. Drei Jahre haben die Gewerkschaftsmitglieder über die neue Grundsatzposition diskutiert und dabei offensichtlich einen entscheidenden Streitpunkt ausgeräumt: Die Forderung nach Inklusion kommt aus der Kritik am getrennten Schulsystem. Sie ist kein Angriff auf die Pädagoginnen*, die in diesem System arbeiten, an welcher Stelle auch immer.
Auch der Verband Bildung und Erziehung VBE hat sich Anfang Juni als Fazit aus seiner Lehrerinnen*befragung zur Inklusion eindeutig positioniert: „Die Politik muss begreifen: Inklusion ist kein Randthema – sie ist ein Prüfstein für den Zustand unseres Bildungssystems“, sagt der stellvertretende Bundesvorsitzende Tomi Neckov.
Beide Verbände fordern nicht nur – dringend und zu Recht! – deutlich mehr Ressourcen für die Schulen. Sie fordern auch den qualitativen Wandel. Sie sehen in der inklusiven Bildung nicht ein Problem, sondern die Chance, die Schulen für alle Schülerinnen* besser zu machen. Die lieblose Behandlung der inklusiven Bildung durch die Schulpolitik muss ein Ende haben!
Medienschau Mai
Aufbruch 1
///Jahrelang hat sich die Bildungsgewerkschaft GEW beim Thema Inklusion eher versteckt als deutlich positioniert. Das soll sich jetzt wieder ändern. Der bundesweite Gewerkschaftstag fordert mehrheitlich einen neuen Aufbruch für die Umsetzung der inklusiven Bildung:
News4teachers
30. Gewerkschaftstag: „Gegen eine veraltete Schulstruktur“ – Wie die GEW sich die Bildung der Zukunft vorstellt
///Auch der Verband Bildung und Erziehung VBE zieht aus seiner neuesten Lehrerinnen*umfrage zum Thema Inklusion den Schluss: Es muss einen neuen Aufbruch geben:
VBE.de
BARRIEREN IN DER SCHULE – Inklusion in Deutschland stockt
///Hoch interessanter Artikel mit – wieder einmal – irreführender Überschrift. In Berlin werden 2.300 bis 2.800 Schülerinnen* mit Behinderung gar nicht, verkürzt oder unregelmäßig beschult, und zwar in allgemeinen Schulen ebenso wie in Förderschulen. Das legt ein interner Bericht der Bildungsverwaltung offen, der dem Tagesspiegel vorliegt. Besonders betroffen sind Schülerinnen* mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Von ihnen werden ganze 15 Prozent nicht ordnungsgemäß beschult. Eine weitere besonders betroffene Gruppe: Schülerinnen* mit Autismus.
Im vergangenen Jahr war dieser versteckte Skandal erstmals vom Berliner Bündnis für schulische Inklusion thematisiert worden. Mit der Veröffentlichung des Berichts ist nun klar, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um einen Verstoß gegen die allgemeine Schulpflicht in ungeheurem Ausmaß:
Tagesspiegel
Erhebliche Lücken bei der Inklusion: Tausende Berliner Kinder werden kaum beschult (Paywall)
///Die Nicht-Beschulung von Kindern mit Behinderung ist auch Thema in einer aktuellen Folge des Perspektiven-Podcasts „und jetzt?“. Hier kommen Beobachterinnen* aus mehreren Bundesländern zu Wort:
und jetzt?
Bildung für alle? Warum das noch keine Realität ist
///Wenn Schülerinnen* mit Behinderung in allgemeinen Schulen in sogenannten Förderklassen unterrichtet werden, hat das mit inklusiver Bildung nicht viel zu tun. Möglich sind solche Notlösungen in Berlin schon seit Jahren. Jetzt will die Bildungsverwaltung sie mit einer neuen Sonderpädagogik-Verordnung normalisieren – gegen Proteste des Behindertenbeirats, der Zivilgesellschaft und des Deutschen Instituts für Menschenrechte:
///Beobachten wir in Berlin gerade Abbrucharbeiten an der inklusiven Bildung? Eine Online-Petition fordert, eine gute Qualität inklusiver Bildung durch die Verankerung angemessener Vorkehrungen im Schulgesetz zu sichern:
Berliner Bündnis für schulische Inklusion
Schluss mit dem Inklusions-Chaos! - „Angemessene Vorkehrungen“ ins Schulgesetz!
///56.000 Jugendliche verlassen pro Jahr die Schule ohne Abschluss, mehr als ein Drittel davon aus Förderschulen. Eine „ungeheure Vergeudung“ nennt das der Bildungsforscher Professor Klaus Klemm:
Spiegel
Bildung in Deutschland: Immer mehr Jugendliche verlassen die Schule ohne Abschluss
///Der Peak bei den Schülerinnen*zahlen ist erreicht. Das ist das Ergebnis von neuen Berechnungen des Bildungsforschers Professor Klaus Klemm. Zunächst in den Grundschulen wird die Schülerinnen*zahl ab jetzt deutlich sinken.
Wer jetzt überrascht ist, sollte sich die aktuellen Geburtenzahlen ansehen. Denn die I-Dötzchen des Einschulungsjahres 2030 sind ja schon geboren. Leider rechnen die Kultusministerkonferenz, die Länder und Kommunen in ihren Planungen für Schulplätze und Lehrerinnen*stellen noch mit älteren Zahlen und Prognosen, zum Teil basierend auf Berechnungen aus dem Jahr 2019. Das ist schonmal schiefgegangen: Auch im Jahr 2017 war es Klaus Klemm, der gegen die offiziellen Berechnungen vor einem bevorstehenden deutlichen Lehrerinnen*mangel warnte. Das wäre besser ernstgenommen worden.
Handelsblatt
Geburtenrate: 2035 könnte es ein Sechstel weniger Grundschüler geben
///Auch die bayerische Landesregierung bemerkt aktuell, dass ihrem Schulressort die Zahl der Kinder mit dem Förderstempel „geistige Beeinträchtigung“ über den Kopf wächst. Im Kultusministerium herrscht Ratlosigkeit: „Die Gründe für diese in dieser Form nicht vorhersehbare Entwicklung sind bislang nicht valide erklärbar und werden aktuell wissenschaftlich untersucht“, äußert sich das Ministerium bedenklich schlingernd.
Vielleicht sollte die Ministerin in anderen Bundesländern nachfragen, die bereits die Ergebnisse solcher wissenschaftlichen Untersuchungen vorliegen haben… Jedenfalls gibt es in Bayern für 300 Erstklässler mit diesem Förderschwerpunkt keine Schulplätze, gar keine, weder in Förderschulen noch in allgemeinen Schulen. Schon wird über eine „leichte Unterrichtsreduzierung“ nachgedacht.
Süddeutsche Zeitung
Inklusion in Bayern: An Förderzentren fehlen 300 Plätze für Erstklässler
///Der Schuldezernent der Stadt Essen leistet den Offenbarungseid: Er schafft es nicht, die inklusive Bildung in seinen Schulen umzusetzen. Die Zahl der Schülerinnen* an Förderschulen sinkt nicht, sondern steigt sogar rapide. Sie ist innerhalb von zehn Jahren von rund 2.600 auf nunmehr rund 3.600 gestiegen. Und natürlich sind immer die Anderen Schuld, der Lehrerinnen*mangel, die Eltern und irgendwie die Inklusion an sich. Was macht der Mann eigentlich beruflich?
WAZ
1000 mehr als vor zehn Jahren: Zahl der Förderschüler steigt (Paywall)
///Die Hälfte der weiterführenden Schulen in Deutschland arbeitet weiter, als ob es die UN-Behindertenrechtskonvention nicht gäbe. Zwar bekennen sich auch die Gymnasiallehrerinnen* zur – zielgleichen) Inklusion von Schülerinnen* mit Behinderung, die das Abitur ansteuern. Doch selbst diese „halbe Inklusion“ funktioniert nur selten.
Das Frankfurter Gymnasium Wöhlerschule ist mit acht Schülerinnen* mit sonderpädagogischem Förderbedarf schon Spitze. Aber in der Wöhlerschule gibt es auch ein sogenanntes Inklusionsteam, und damit Lehrerinnen*, die sich speziell für das Gelingen der Inklusion engagieren. Die FAZ beschreibt Gelingen und Hindernisse in einem ausführlichen und differenzierten Bericht:
FAZ
Umgang mit Behinderungen: Wie viel Inklusion passt in ein Gymnasium? (Paywall)
///Das Land Sachsen gehört in Deutschland nicht zu den Vorreitern der inklusiven Bildung. Fragt man die Eltern behinderter Kinder, ist es dort besonders schwer, die Beschulung an einer allgemeinen Schule durchzusetzen. Die Leipziger Volkszeitung hat hier Schulleiterinnen* zum Stand der Inklusion befragt und findet Pädagoginnen*, die Inklusion wollen, sich aber weder vorbereitet noch unterstützt fühlen:
Leipziger Volkszeitung
Inklusion an Sachsens Schulen: Wunschtraum oder Wirklichkeit? (Paywall)
///Vor vielen Jahren, als Inklusion in den Schulen für Köln noch ein wichtiges Thema war, hat die Stadt ein eigenes Raumprogramm für den Schulbau festgelegt. Alle Schulen sollten nach und nach inklusionstauglich werden. Heute fehlt es an Schulraum und Geld, und der Stadtrat beschließt, die allgemeinen Schulen wieder kleiner zu bauen. Köln setzt damit ein ganz schlechtes Zeichen:
Kölnische Rundschau
Neues Musterraumprogramm: Warum Köln beim Schulbau in Zukunft abspecken muss
///Im Inklusions-Pegel für den April hatten wir uns damit beschäftigt, dass Politikerinnen* die steigenden Kosten für die Eingliederungshilfe kritisieren. Dabei erwecken sie den Eindruck, als ob diese Kostensteigerungen durch ein Anspruchsdenken behinderter Menschen verursacht würden.
Tatsächlich ist die Behindertenhilfe aber vor allem durch Tarif- und Sachkostensteigerungen teurer geworden. Die Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben – gemeinsam lernen in Baden-Württemberg bringt dies auf Instagram vortrefflich auf den Punkt: „Alles bleibt, wie es ist. Es wird aber immer teurer, Menschen mit Behinderung zu separieren.“
Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben - gemeinsam lernen
„Alles bleibt, wie es ist. Es wird aber immer teurer, Menschen mit Behinderung zu separieren.“
///Die Deutsche UNESCO-Kommission richtet am 25. Juni eine Online-Veranstaltungen zu guter Praxis in der inklusiven Bildung aus, mit Expertinnen* aus Deutschland, Kanada, Portugal und Südtirol. Hier gibt es weitere Informationen:
UNESCO
Veranstaltung: Internationale gute Praxis in der Inklusiven Bildung